Bäckerei Bergmann

Brot und Kuchen aus naturbelassenen Zutaten – ein Meister schwört darauf

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 10 Min.
Sauerteig ist der Grundstock für Brot
Sauerteig ist der Grundstock für Brot

Die Sonne schläft noch hinterm Gebirge, wenn Roland Bergmann die Backstube aufschließt. Er knipst das Licht an, die Neonleuchten klimpern erschrocken mit den Wimpern, bevor sie die kalten Augen aufreißen und auch der große Raum erwacht: der lange Tisch mit der hölzernen Arbeitsfläche, der große Ofen, die Maschinen, die chromblitzende Spülzeile. Nur der Sauerteig schlummert weiter, in einer roten Plastikschüssel, zugedeckt mit einem Tuch, das ihn vor dem Licht schützt und warm hält. So muss es sein. Es ist fünf Uhr fünfzehn.

Schon um vier Uhr hat sich Bergmann in Gnaschwitz auf den Weg gemacht. Gnaschwitz heißt das Dorf bei Bautzen, in dem er wohnt. Die Strecke nach Zittau ist gefährlich. Besonders im Winter, besonders so früh: scharfe Kurven, abschüssige Straßen, spiegelglatt oder tiefverschneit, noch haben die Räumfahrzeuge zu kämpfen. Jeden Morgen betet Bergmann, sein Mitsubishi möge ihn nicht verlassen; rechnen muss er damit. Der »Japaner« ist unzuverlässig. Kein Vergleich mit dem Mercedes 180 SEL, den er vorzeiten gefahren hat und der wie auf Kissen dahinglitt – Schnee von gestern. Zu spät kommt Bergmann nie.

Anders als seine Lehrlinge. Um fünf Uhr fünfundvierzig ist Arbeitsbeginn, der eine oder andere trudelt schon mal etwas später ein. Bergmann kann das nicht goutieren, doch da auch seine Schützlinge weite Wege zurücklegen müssen – sie kommen aus Bautzen, Görlitz, Löbau oder aus Dörfern der Umgebung, nur wenige sind in Zittau zu Hause –, pflegt er ein Auge zuzudrücken. Es gibt strengere Meister als ihn. Respektiert wird er trotzdem.

*

An diesem Morgen sind alle pünktlich, das erste Lehrjahr ist komplett. Bergmann betreut auch das zweite und dritte, bis zur Facharbeiterprüfung. Seit 2000 arbeitet der Bäcker- und Konditormeister als Ausbilder. Sein Arbeitsplatz: das Schulungszentrum Zittau-Löbau der BAO. Die drei Buchstaben stehen für »Bildung – Arbeit – Orientierung«, für eine gemeinnützige GmbH, die nicht nur Bäcker ausbildet, sondern »alles, was der Arbeitsmarkt braucht«. Da der Arbeitsmarkt bekanntlich wenig braucht, gehen viele Jugendliche ohne betriebliche Lehrstelle aus. Hier springt die BAO in die Bresche: Sie ist quasi der Ersatzbetrieb, der »Arbeitsuchende qualifiziert« und ihnen doch noch einen Lehrvertrag gibt. Wer hier lernen darf, hat eine Chance. Oft die zweite, fast immer die letzte. Nicht jeder weiß das.

Bergmanns »Erstes« scheint es zu wissen. Es besteht aus fünf Jungen und vier Mädchen. Einige von ihnen haben bereits eine Lehre abgebrochen, andere gar nicht erst eine bekommen: Das hier wollen sie »durchziehen«. Während die Jungen Bäcker werden, erhalten die Mädchen eine Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin. Bei Berg- mann lernen sie, wie Brot, Semmeln, Kuchen, Kleingebäck und Konditorwaren beschaffen sind, wie man fachgerecht damit umgeht, und all das lernen sie am besten – beim Backen.

Heute will Bergmann mit seinem »Ersten« Mohnstollen herstellen. Nach einem alten Familienrezept. Er stammt nämlich aus einer Bäckerdynastie, deren köstliche Kreationen in den Dörfern rund um Gnaschwitz noch heute in aller Munde sind, wenn man das denn so ausdrücken darf. Sein Großvater Paul Ogasa, den seine spätere Großmutter Gertrud einst aus Oberschlesien in die Oberlausitz lockte, hatte 1933 die Gnaschwitzer Bäckerei gegründet. Buchteln buk der, meine Güte! Und einen Pflaumenkuchen mit Guss – auf dem Dorf fielen die Pflaumen von den Bäumen ja fast von allein auf das Blech. Anfang der 60er hatte Ogasa das Geschäft seinem Schwiegersohn übergeben. Der hieß Herbert Bergmann und war Roland Bergmanns Vater. Berühmt war er für seine Windbeutel, Kirschrollen und Zitronenecken. 1980 dann war Roland Bergmann an der Reihe, die Bäckerei zu übernehmen. Das tat er auch, zunächst zähneknirschend. Hatte er doch Kfz-Schlosser werden wollen. Heute sagt er: »Was für ein Glück, dass ich so ein braver Sohn war. Bei mir, hätte ich Autos repariert, wären immer ein paar Schrauben übriggeblieben.« Beim Bäcker Roland Bergmann blieben, wenn der Laden abends schloss, kein Brot und kein Stück Kuchen über.

Für den Teig eines Mohnstollens werden 350 g Weizenmehl vom Typ 405 benötigt, 50 g Hefe, 50 ml warme Milch, 100 g Butter, 70 g Zucker, 2 Eigelb und 1 Prise Salz. Da aber gleich 15 Stollen gebacken werden sollen, ist Rechnen angesagt. Bergmann ahnt schon, das wird dauern; mit dem Rechnen hapert's heute. Früher, in seiner eigenen Bäckerei, waren die Lehrlinge damit flinker. Die waren auch noch in der DDR zur Schule gegangen.

Die errechnete Menge Mehl wird nun mit der zerkleinerten Hefe und der warmen Milch in den Kneter gegeben. Längst übernehmen Maschinen die Muskelarbeit. Auch Bergmann hatte in seiner Bäckerei alle Maschinen, die er brauchte. Obwohl es zu DDR-Zeiten schon einiger Mühe bedurfte, sie aufzutreiben. Ein wirkliches Problem war es für ihn nicht: Ist er eben rumgereist. Drei Kneter besaß er, vier Anschlagmaschinen für Biskuit, Rührkuchen, Buttercreme und Brandmasse, und vor dem Ofen hatte er einen Hubroller stehen, damit er die Bleche in die einzelnen Etagen fahren konnte. Heute bekommt man modernste Maschinen sozusagen an jeder Ecke. »Aber wenn du hörst, was die kosten, fallen dir die Löffel ab«, sagt er. »Und geht mal eine Maschine kaputt, dann bezahlst du dich dumm und dusselig.« Er weiß, wovon er spricht.

Für die Mohnmasse müssen pro Stollen 300 g Mohn, 150 g Kekse und 60 g süße gemahlene Mandeln, 225 g Zucker, ½ Fläschchen Bittermandelaroma, 125 g zerlassene Butter, 125 ml heiße Milch und 2 Eier genommen werden. Bergmann passt auf, gibt Hilfestellung. Jetzt gilt es, den angegarten Teig zu größeren Rechtecken auszurollen und mit der Mohnmasse zu belegen. Einrollen und ab in den Ofen.

Das »Erste« stellt sich gar nicht so dumm an. Bergmanns »Drittes« könnte sich von ihm eine Scheibe abschneiden. Sein jetziges »Drittes« hat »null Bock«. In seinem ehemaligen »Dritten« hatte er sogar ein paar »Rechte«. Gerade in der Gegend um Zittau soll es viele Rechte geben; Bergmann versteht das nicht: Der Landstrich ist doch eigentlich christlich. Auch Bergmann ist Christ. Gleich am Anfang, als die Rechten bei ihm die große Lippe riskierten, hat er sie richtig angeschnauzt, klar gemacht, wer hier der Chef ist. Danach funktionierten sie nach dem Motto »Führer befiel, wir folgen dir.« Er fand das nicht witzig.

Sein »Erstes«, wie gesagt, macht sich gut. Die Mädchen und Jungen sind motiviert. Die Jungen sind sich darüber im Klaren, dass, sollten sie einmal Bäcker sein, Tag- und Nachtarbeit ineinanderfließen. Familienfreundlich ist das nicht. Doch da sie noch Singles sind, erscheint es ihnen sogar hipp: morgens früh nach Hause kommen, schlafen, wenn andere arbeiten gehen, nachmittags aufstehen, noch etwas unternehmen ... Einige liebäugeln sogar damit, später einmal den Meister zu machen. Auch wenn, aus rein finanzieller Sicht, daran kaum zu denken ist, eine eigene Bäckerei wäre schön – Bergmann weiß nicht, ob er sie in diesem Traum bestärken möchte.

Ihm selbst ist es fantastisch gegangen. Seinem Vater, in den 70ern, hatte man als Selbstständigem zwar noch diesen oder jenen Stein in den Weg gelegt, aber als er übernommen hatte, konnte er sich nicht beklagen. Er hat richtig Kohle verdient, beispielsweise mit den Hotdogs, die er der HO lieferte. Erst fuhr er Wartburg, dann Shiguli, und am Müggelsee in Berlin lag eine schicke Motorjacht. Samstags um zehn war Schicht im Geschäft, dann lag vor ihm, seiner Frau und den Söhnen ein erholsames Wochenende. Vielleicht wäre es so weitergegangen, hätte er nach dem Ende der DDR nicht auf den Betriebsberater gehört, der aus den alten Ländern kam und ihm riet zu expandieren. Vielleicht wäre es anders gekommen, hätte er nicht seiner Frau nachgegeben und wäre bescheiden geblieben. So hat er einen Kredit aufgenommen, ein Haus in bester Lage in Bautzen gekauft, in dem er eine zweite, größere Bäckerei Bergmann etablierte. Zunächst schien alles gut zu laufen. Die Bäckerei Bergmann buk ohne Chemie, nur mit natürlichen Zutaten. Brot und Brötchen riss man ihm aus den Händen. Dann interessierte sich eine große Kette aus Berlin für seine Erfolgsrezepte, täglich sollte er dieser Kette von nun an 8000 Brote liefern. Die löste den Vertrag eine Woche später. Und tags darauf kündigte ihm die Bank den Kredit. Zufällig eben jene Bank, die jene Kette zu ihren Kunden zählt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

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Die Stollen müssen auskühlen. Buttern und zuckern wird sie morgen das »Zweite«, dann können sie verkauft werden. Natürlich nur zum Betriebskostenpreis, als gemeinnütziger Verein darf die BAO keinen Gewinn machen. Noch ist freilich nicht Feierabend. Jetzt geht es ans Brotbacken. Der Sauerteig in der Plastikschüssel hat lange genug geschlafen, er ist der Grundstock der Brotherstellung. Deshalb wird ein Teil von ihm »erweckt«. Vier Mal haben die künftigen Bäcker und Bäckereifachverkäuferinnen das bereits mit Bergmann geübt. Denn mit natürlichen Zutaten zu backen, wie Bergmann es immer praktizierte, ist bundesdeutsche Prüfungsnorm.

Doch Bergmann hat es zigmal erlebt: Kommen seine Lehrlinge zurück aus dem ersten Praktikum, sind sie »teilweise schlechter als zuvor«. Es gibt heute kaum noch Bäckermeister, die auf chemische Hilfen verzichten. Statt einen Sauerteig anzusetzen, den sie nachmittags noch einmal auffrischen müssten, benutzen sie für das Brot Stabilase und für Brötchen und Baguettes statt biologischem Backmalz Backmittel. Keiner weiß wirklich, was da drin ist, und jeder weiß, dass es nicht schmeckt und alles andere als gesund ist. Aber Brote und Brötchen machen was her, weil sie um ein Drittel aufgebläht sind. Zudem reißen sie weniger, und es kann nichts schiefgehen. Man muss abends nichts vorbereiten, nur morgens alles »reinschütten«. Die »hohen Brote im Supermarkt« – Bergmann nennt sie »pure Chemie«: »Niemand kann auf natürlichem Wege aus einem Kilobrot so ein Ding zaubern.« Die Liste der Chemikalien ist lang. Es gibt Gärunterbrecher für die Brötchen – in großen Gefrierschränken, die jede Menge Strom fressen, werden sie abends eingefroren, zum richtigen Zeitpunkt aufgetaut und automatisch angegart, sodass die Bäcker nicht mehr früh raus müssen. Die gefrosteten Supermarktsemmeln: »mit Doping vollgepumpte Teilchen«. Sogar Eierscheckenmasse lässt sich aus der Tüte zusammenrühren – Bergmann kann nur den Kopf schütteln.

Nach dem Ende seiner Bäckerei 1994 lebte er in einem schwarzen Loch. Tage, die man »in die Tonne haut«. Sechs Jahre, die man »Leben« nennt. Die Familie ist zerbrochen, die Söhne sind bei ihm geblieben. Marco, der ebenfalls Bäcker wurde, hat eine Anstellung gefunden. Rocco, der Ergotherapeut, schlägt sich als Leiharbeiter durch, im EDV-Bereich, »im Westen«. Irgendwann hat Bergmann sich aufgerappelt. Die Stelle bei der BAO war auch für ihn die zweite Chance. Geregelter Verdienst, feste Arbeitszeiten. Warum nicht ein Backbuch verfassen? Leute, die Null-Ahnung hatten, gaben Kochbücher heraus, das konnte er doch allemal! So schrieb er Verlage an, »fast alle, die es gibt«. Was er montags in den Briefkasten warf, kam oft dienstags schon zurück. In diesem Jahr gab der Leipziger BuchVerlag für die Frau sein Buch »Backen in der Oberlausitz. Kuchen & Gebäck in guter Tradition« heraus. Alle Rezepte ohne Chemie. Bergmann garantiert: Sie gelingen.

Die Brote sind fertiggebacken. Jetzt werden sie mit Wasser bestrichen. Eines, nur eines, endlich eines, eines ist perfekt geraten: voluminös aufgegangen, »mehr ist mit reiner Natur nicht möglich«. Der fünfte Versuch seines ersten Lehrjahrs. Das »Erste« hat noch viele Versuche, am Ende seiner Ausbildung wird es perfekt Brot backen können. Was es aus dieser Gabe dann macht, kann Bergmann nicht beinflussen.

Nachmittags, 14.30 Uhr. Die Lehrlinge haben Feierabend. Bergmann noch nicht. Bevor er in sein kleines Büro geht, schweift sein Blick prüfend durch die Backstube: über den Ofen, die Semmelwirkmaschine, die Mohnmühle, die Anschlagmaschine, das Fettbackgerät für Pfannkuchen und Spritzlinge. Alles von ihm selbst ausgesucht. »Das ist sie, die Bäckerei Bergmann«, sagt er, bevor er das Licht löscht und abschließt.

Roland Bergmann: Backen in der Oberlausitz. Kuchen & Gebäck in guter Tradition. BuchVerlag für die Frau. 112 S., geb., 12,90 EUR.

Bergmanns »Erstes« versucht sich an Mohnstollen
Bergmanns »Erstes« versucht sich an Mohnstollen
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