Trümmerfeld der Metropole
Antonio José Ponte besichtigt das moribunde Havanna
Man sollte am Morgen durch die Stadt gehen, knapp vor Sonnenaufgang. Denn eben aus dem Schlaf erwacht, hat Habana Vieja noch etwas von einstiger Grazie. Auf Balkonen krähen Hähne, und in den bitter nach Kaffee riechenden Küchen zerhackt Radio Reloj die ewig neue Zeit. Wie geht es den Comandantes? Es geht, alles wird gut. Man sollte einen Begleiter haben, einen wie Antonio José Ponte, nicht den Autor, sondern sein Alter ego, den Ich-Erzähler seines Buchs.
Ponte, Jahrgang 64, führte schon ein leidlich aufregendes Leben – als Ingenieur und Professor, als Poet und Erzähler, als Liebling des Castro-Systems und Feind desselben, ausgeschlossen aus dem Künstlerverband, ein Gespenst, zum Schweigen verurteilt seit 2003. Vor dem Bann sagte ein Funktionär, mit Fingerzeig auf böse Imperialisten: »Man sollte nicht vergessen, daß diese Leute ihren Mann in Havanna haben.«
Pontes Held, die Figur seines Namens, ist Spaziergänger, ein Typ, der die Abschweifung liebt, den Umweg. Auch er sucht Geleit für den Weg durch die Stadt; El Che ist nicht dabei (»ein umherirrender Geist auf einem verwünschten Schiff«) und nicht der moribunde Fidel. Im Vorübergehen grüßt der Flaneur zwei Touristen, Sartre und die Beauvoir (»Vergessen Sie nicht, daß die Intellektuellen nirgends glücklich sind«, ruft Sartre aus der Ferne des Jahres 1960), dann hat Ponte die passenden Gefährten gefunden: Graham Greene und dessen »Mann in Havanna« – James Wormold, Vertreter für Staubsauger und virtueller Agent der Briten. Prompt beginnt ein Spiel mit Spiegeln. Wormold trifft Gestalten, die sich Hawthorne, Cooper, Marlowe nennen, ja, der Engländer hat ein veritables Stück Literaturgeschichte in seinen Text geschmuggelt, und der Kubaner tut es ihm gleich – auf siebzehn Seiten referiert er Greenes Roman.
«La fiesta vigilada« (Das überwachte Fest) heißt Pontes Werk von 2007 im spanischen Original. Aber gottlob, es wurde keine Abhandlung über tropisch-urbane Vergnügungen. Das Fest, genauer: die stete Bereitschaft der Habaneros zu feiern, ist lediglich Kristallisationskern für eine feine soziologische Studie, das Porträt einer Gesellschaft in Auflösung.
Die Launen kubanischer Tagespolitik sind ein zweites Thema des Bandes. Bestechend, wie Ponte mit dem äußeren zugleich den inneren Zerfall beschreibt. Die Stadt ruiniert, ihre Bewohner ruiniert, und Ruine wird, wer ins Mahlwerk der Macht gerät. Der Verfasser erinnert an den Umgang der Führer mit den eigenen Anhängern. »Immer stand man unter Verdacht. Unter Beobachtung. Bespitzelung und Tribunale zeugten von revolutionärer Wachsamkeit.« Er erinnert an den Neuen Menschen, diesen Homunkulus aus der Alchimistenküche sozialistischer Herrscher. Wo steckt er, Jahrzehnte nach seiner Schöpfung?, fragt der Erzähler. Er lebt – mal metaphorisch, mal wörtlich – im Trümmerfeld der Metropole.
Ponte ist besessen von den Ruinen. Er erzählt – nein, das ahnte man nicht –, dass die Altstadt nach Plänen aus den Fünfzigern abgerissen werden sollte. Dann kam die Revolution und nach der Revolution der Verfall durch Mangel an Ressourcen und mehr noch durch Geringschätzung. Die Trümmer, sagt der Autor richtig, seien zu Teilen eine Schöpfung der Comandantes, Zeichen einer »Sehnsucht nach dem militärischen Angriff«. Castro brauchte die Ruinen – damit seine Warnung vor der Intervention aus dem Norden auf paradoxe Weise glaubhaft blieb.
Was im Buch fehlt, ist ein Exkurs über die anderen Totengräber der Stadt, jene Campesinos, Provinzler, die Havanna ab 1959 rasch eroberten. Die Oberschicht war eben geflohen, schon bezogen kleine Leute die großen Häuser, Leute mit ländlichem Gebaren. Sie kamen in feindliches Gebiet. (Man denke an die Besetzung Roms durch die »Barbaren« oder, im späten 20. Jahrhundert, an die Okkupation der weißen Hauptstadt Mozambiques durch die schwarzen Rebellen.) Neben den Ruinen von Alt-Havanna erscheinen dem Flaneur die eben rekonstruierten Häuser wie geschminkt, wie maskiert.
Dies ist ein kluges Buch, ein Buch, das seinen Gegenstand behutsam umkreist. Der Kubaner schreibt kühl und elegant, ruhig fließt der Strom der Erzählung. Ab und an steht ein Fels im Strom, eine aphoristisch verknappte Passage: Aufgepasst!, heißt das. Zugehört! Liebeslied und Klagegesang ist der Text, aber Klage ohne Wehleidigkeit, ohne Hass und ohne den Grimm militanter Dissidenten. Ponte würzt mit Ironie, mit feiner, ätzender Dosis. Im Deutschen erhielt der Essay einen schönen neuen Titel: »Der Ruinenwächter von Havanna«. – Kürzlich, nach einer Reise in den Westen, durfte der Wächter seinen Ort nicht mehr betreten. Seit 2006 lebt Antonio José Ponte in Madrid.
Antonio José Ponte: Der Ruinenwächter von Havanna. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Verlag Antje Kunstmann. 237 S., geb., 19,90 €.
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