Glotzen oder helfen?

Ob jemand Opfern von Gewalttätern beispringt, hängt nicht nur von der Persönlichkeit ab

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 7 Min.
Glotzen oder helfen?

Das Pochen an der Tür reißt den Mann aus dem Schlaf. Dann schreit eine Frau von draußen: »Ich will, dass sie rauskommt. Schick sie raus!« Der Geschäftsreisende ist jetzt hellwach; sein Herz rast. Was will diese Irre, denkt er. Denn er kennt die Frau nicht, und bei ihm ist niemand, den er rausschicken könnte, schon gar kein weibliches Wesen.

Doch er beruhigt sich; schließlich ist er ein Mann und von kräftiger Statur. Also geht er zur Tür seines Hotelzimmers, reißt sie auf und blafft die offensichtlich Geistesverwirrte, die im Nachthemd vor ihm steht, an. »Schluss mit dem Unsinn! Gehen Sie wieder auf Ihr Zimmer!« So würden wohl viele Männer reagieren, wenn sie dergleichen in einem deutsche Hotel erlebten.

Doch nun verändere man bloß ein kleines Details – den Ort des Geschehens – und verlege das Ereignis in die USA. Die verwirrte Frau donnert nun an die Tür eines Motel-Zimmers, irgendwo im gottverlassenen Mittelwesten. Viele Menschen – und beileibe nicht nur besonnene – haben dort Schusswaffen zu Hause.

Derselbe deutsche Mann, nun als Urlauber, wäre in diesem Fall gut beraten, sich anders zu verhalten – viel vorsichtiger. Womöglich wäre er sogar gut beraten, vorsorglich hinter seinem Bett in Deckung zu gehen. Denn gegen eine Geisteskranke, die eine Schusswaffe in der Hand hält, nutzen auch Muskeln nichts. Was also, wenn er die Tür aufreißt, und die Verrückte einfach abdrückt? Und was, wenn sie einfach durch die Tür Richtung Bett feuert?

Dieses Fallbeispiel, dessen zweiter Teil auf einer wahren Begebenheit beruht, zeigt eines sehr deutlich: Wie man auf einen Aggressor reagiert, hängt sehr von den äußeren Umständen ab. Der Unterschied zwischen Mut und Tollkühnheit mag schwer zu ziehen sein, doch er kann über Leben und Tod entscheiden. Das gilt nicht nur, wenn man sich selber helfen will, sondern auch dann, wenn andere Menschen in großer Gefahr schweben.

Die tödlichen S-Bahn-Attacke Mitte September in München, als der Geschäftsmann Dominik Brunner seinen Mut mit dem Leben bezahlen musste und Umstehende tatenlos zusahen, hat die Gesellschaft aufgerüttelt. Und leider häufen sich die Fälle, in denen Gewalttäter ihre meist unterlegenen Opfer mit größter Brutalität traktieren.

»Hier ist sicherlich eine neue Dimension erreicht«, sagt der Osnabrücker Kriminologe Professor Hans-Dieter Schwind, Vorstandsmitglied der Opferhilfe-Organisation »Weisser Ring«. Auch vor zwanzig Jahren sei es zwar vorgekommen, »dass auf einen schon am Boden Liegenden noch eingetreten wurde«. Doch heute werde manchmal »so gegen den Kopf getreten, bis das Opfer schwerverletzt ist«. Es soll dann nicht nur besiegt, sondern vernichtet werden.

Das bleibt nicht ohne Folgen für die Hilfsbereitschaft vieler Menschen. Ob sich jemand von der ausufernden Brutalität noch eher abschrecken lasse, »hängt von der Persönlichkeit des Beobachters ab«, sagt der 73-jährige Jurist. Er befürchte jedoch, dass die Angst der Menschen durch die Gewaltakte der jüngsten Vergangenheit »eher größer als kleiner geworden ist«.

In jedem Fall kommen weitere begünstigende oder erschwerende Umstände für helfendes Eingreifen hinzu. Wer näher am Tatort steht, greife eher ein, auch weil dann weniger Zeit zum Bedenken möglicher Verletzungsrisiken besteht. Auch steige die Hilfsbereitschaft, wenn die Situation eindeutig ist – wenn also klar erscheint, dass wirklich jemand angegriffen wird, wer Täter und wer Opfer ist. Die Solidarität mit dem Opfer sei hingegen kleiner bei Dunkelheit und dann, wenn der potenzielle Helfer auf sich alleine gestellt wäre.

Eine weitere Rolle spielt, ob der im Grunde Hilfsbereite abschätzen kann, welches Risiko er eingeht. Die entscheidende Frage lautet: Wie weit wird der Gewalttäter gehen? Riskiere ich ein blaues Auge, eine Schnittwunde oder mein Leben? Gegen ein Messer hat man vielleicht noch eine Chance – aber gegen einen Revolver wie im Eingangsbeispiel?

Schwind appelliert dennoch an die Zivilcourage seiner Mitbürger. »Jeder kann selbst Opfer werden und sollte sich schon deshalb überlegen, ob und wie er anderen helfen würde«, rät der frühere niedersächsische Justizminister (1978- 1982). »Wenn man sich nicht vorher Gedanken macht, wird man im Ernstfall wahrscheinlich nicht helfen«, urteilt Schwind, der auch Autor des schon 1998 erschienenen Buchs »Alle gaffen – keiner hilft« ist. Gewaltsituationen blockierten die Helferinstinkte.

»Viele Menschen wollen sich nur deshalb nicht einmischen, weil sie Ärger befürchten«, urteilt Schwind. Die Täter glaubten, »ihren augenblicklichen Antrieben bedenkenlos und ungehindert entsprechen zu können« – wie auch im Münchener S-Bahn Fall – und gingen davon aus, »dass den Opfern niemand helfen wird«. Deshalb fordert Schwind: »Wir müssen das Misserfolgsrisiko für die Täter erhöhen, indem wir nicht gaffen, sondern helfen und damit anderen potenziellen Tätern signalisieren, dass sich unsere Gesellschaft zu wehren beginnt.«

Das genau ist aber das Problem und kann nur funktionieren, wenn es genügend Menschen gibt, die sich Gewalttaten mutig entgegenstellen und die Opfer schützen. Jeder, der hier Maßstäbe setzen will, muss davon ausgehen, dass andere ängstlicher sind – es geht also um eine persönlich äußerst riskante Vorleistung ohne jede Gewissheit, ob sie Früchte tragen wird.

Beim Abwägen, ob man nun eingreift oder nicht, sollten mögliche juristische Folgen unbedingt mitbedacht werden. So kann unterlassene Hilfeleistung mit Strafe geahndet werden. Strafbar macht sich, »wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erheblich eigene und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist« (Paragraph 323c Strafgebsetzbuch, StGB).

Zumindest müssen mutige Helfer nicht befürchten, bestraft zu werden, wenn sie beim Dazwischengehen selber eine Straftat verüben – zum Beispiel eine Körperverletzung gegen den Täter. Derlei fällt nach Paragraph 32 StGB unter Nothilfe und ist straffrei gestellt – allerdings nur dann, wenn davon auszugehen ist, dass der Eingriff im Sinne des Opfers ist und nicht etwa erkennbar gegen dessen Willen erfolgt. Ruft etwa eine Frau, man solle ihren gegen sie aggressiven Mann »bitte nicht schlagen«, darf man dies auch nicht tun. Es sei denn freilich, der Aggressor wendet sich gegen den Helfer, der dann ja nicht in Nothilfe, sondern aus Notwehr handelt.


Verhaltenstipps gegenüber Aggressoren

  • Wird ein Mitmensch auf der Straße oder in der U-Bahn bedrängt oder gar bedroht, gilt es rasch und dennoch besonnen zu handeln. Wer früh eingreift, kann oft vermeiden, dass sich eine bedrohliche Lage zuspitzt oder demnächst körperliche Gewalt angewendet wird.
  • Das ist besonders dann ratsam, wenn man als Helfer alleine dasteht und weder über große Kräfte noch über eine solide Nahkampfausbildung verfügt, sich also selber nicht gut wehren kann.
  • Helfer sollten die Täter laut, aber nicht arrogant ansprechen und sie dabei siezen, um nicht noch zusätzliche Aggressionen zu wecken. Gewalt sollte nur im äußersten Notfall angewendet werden, also nicht schon dann, wenn das Opfer lediglich geschubst oder anders bedrängt wird. Kein Helfer kann wissen, welche Waffen die Täter bei sich tragen und bereit sind, einzusetzen.
  • Sind weitere mögliche Helfer anwesend, müssen diese gezielt und mit Nachdruck zum Eingreifen und Mittun angestiftet werden, etwa so: »Sie da mit dem schwarzen Hut, kommen Sie, wir müssen was tun! Und Sie da mit dem roten Mantel, Sie können uns auch helfen!« Das sollte auch das Opfer selber tun, wenn kein Zuschauer die Initiative ergreift.
  • Ist der Konflikt bereits eskaliert und man fühlt sich machtlos, sollte man dem Opfer signalisieren, dass man Hilfe anfordert, und dann per Handy die Polizei informieren. Danach sollte der Helfer wenigstens für die Polizei hilfreiche Beobachtungen machen: Wie viele Täter sind es, wie sehen sie aus, was tragen sie an Kleidung, zu welche Übergriffen kommt es und durch wen genau?
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