Still. Ein einzige Silbe erklärt das Leben

Kuba 1970: Alma Guillermoprietos Erinnerung an eine Tanzschule – Revolution mit abmontierten Spiegeln?

  • Erich Hackl
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist ein bedrückender Augenzeugenbericht über Kuba im Jahr 1970, den die in Mexiko aufgewachsene, in den USA lebende Journalistin Alma Guillermoprieto Jahrzehnte nach ihrem Aufenthalt auf der Insel geschrieben hat. Bedrückend nicht nur der nachgestellten Einschätzung wegen, derzufolge das heutige Kuba zur touristischen Kuriosität verkommen sei, sondern weil es in ihrem Buch um mehr als um »eine Erinnerung an die Revolution« geht. Alma Guillermoprieto erinnert sich auch, und zwar ebenso ausführlich wie an den kubanischen Alltag und seine heldenhaften Überformungen, an die unglückliche junge Frau, die sie damals war, als sie für sieben Monate von New York nach Havanna wechselte, um an der Nationalen Kunstschule Modernen Tanz zu lehren. So kommt es, dass ihre Selbstzweifel, ihr Liebeskummer, ihr Hadern mit dem eigenen Körper, ihre schwierige Mutterbeziehung und ihr Empfinden, nicht hinreichend begabt zu sein, den Blick auf die kritikwürdigen Vorgänge an und außerhalb der staatlichen Kunstschule zusätzlich verdüstern.

»Havanna im Spiegel« ist trotzdem ein bemerkenswertes Buch. Einmal, weil es der Nostalgie keinen Platz einräumt; zum andern, weil seine Protagonistin keine Erwartungen mitbringt und die kubanische Wirklichkeit deshalb auch nicht an eigenen Vorurteilen misst. Europäische Leser mag überraschen, wie stark Alma Guillermoprieto – damals, als Einundzwanzigjährige in Havanna, und noch heute, als kundige und welterfahrene Reporterin – von der US-amerikanischen Einstellung geprägt ist, derzufolge Gesundheit die Privatangelegenheit jedes einzelnen sei. Als sie gleich nach ihrer Ankunft wegen einer belanglosen Infektion in einem Krankenhaus gepflegt wird, reagiert sie eher unwillig als dankbar, fast verstört darauf, dass ihr die Fürsorge nicht als einfache Dienstleistung, sondern als Belohnung für moralisch hochstehendes Verhalten zuteil wird. »In Mexiko war meine Lungenentzündung vom Freund einer Freundin behandelt worden, der zufällig Mediziner war. Auch in New York hatte ich normalerweise karitativ eingestellte Ärzte oder kommunale Gesundheitszentren aufgesucht. In Havanna jedoch hatte ich gerade die erste vollständige Untersuchung meines Lebens über mich ergehen lassen, inklusive Röntgenaufnahmen, Tests und drei Tage Krankenhausaufenthalt. Und das alles sollte mich keinen Cent kosten. Oder besser gesagt: Man hatte mich gerade davon in Kenntnis gesetzt, dass diese Behandlung so etwas wie eine Prämie für ein bestimmtes Verhalten sei, für eine Einstellung zur Welt, die von meinem Mut und meinem sozialen Engagement zeuge. Dabei war mir diese Art von Zahlungsmittel überhaupt nicht gegeben.«

Für Alma Guillermoprieto ist die Wechselwirkung von Anspruch und Verdienst eine Falle, nicht eine Errungenschaft der kubanischen Revolution: Wenn Menschen etwas schaffen oder fordern, das diesem moralischen Verdienst entbehrt, verlieren sie jeden Anspruch auf Zuwendung. Künstler zum Beispiel, die sich einer Disziplin verschrieben haben, für die sich ein gesellschaftlicher Nutzen nicht nachweisen lässt. Die junge Alma merkt dies während ihrer Bemühungen, den Studenten die Prinzipien des Tänzers und Choreografen Merce Cunningham beizubringen. »Wie sollte man einem Jungen, der während der kubanischen Revolution aufgewachsen war, erklären, dass das wichtigste Wort in Merces Vokabular still war? Diese einzelne Silbe brachte Merces ganze Haltung gegenüber dem Leben und dem Tanz auf den Punkt, und sie ließ sich nicht einmal ins Spanische übersetzen. Stillness ist jene Ruhe, die die Dinge und die Menschen erlangen, wenn sie kein Bewusstsein von sich haben, wenn sie einfach nur sind, ohne Zweck und Ziel. ›Bewusstsein‹ war dagegen Fidels Schlüsselwort – Selbstbewusstsein, Klassenbewusstsein, revolutionäres Bewusstsein –, und auf Kuba war ein Mensch ohne Zweck und Ziel schlicht und einfach undenkbar – außer natürlich, es handelte sich um einen Faulpelz, der, wie Fidel zu jener Zeit immer häufiger zu fordern begann, ins Gefängnis gehörte.«

Es war nicht nur dieser Widerspruch zwischen den Prämissen der Revolution und denen des Modern Dance, der sich während Guillermoprietos Aufenthalt in Havanna zum offenen Konflikt zwischen der Schulleitung und den Studenten zuspitzte; dazu kam auch das Misstrauen der Funktionäre gegenüber jeder Art von Kunst, die sich der ökonomistischen Logik entzieht, und ihre latente Furcht vor Homosexualität, die in offene Aggressivität umschlug: Der Direktor der Kunstschule, der einst mit Fidel Castro in der Sierra Maestra gekämpft hatte, wischte das Plädoyer eines Studenten für bessere Ausbildung mit dem Argument vom Tisch, einer Schwuchtel brauche man nicht zuzuhören. Dabei war, wie die Autorin anmerkt, die Tanzschule Mitte der sechziger Jahre gerade deshalb eingerichtet worden, weil man modernen Tanz für weniger effeminiert hielt als Ballett.

1970 war nicht nur das Jahr, das dem Quinquenio gris vorausging, dem »Grauen Jahrfünft«, in dem viele Künstler und Intellektuelle verfolgt, Theater geschlossen, Filme und Zeitschriften verboten wurden; es war auch die Zeit, in der das gigantische Unternehmen endete, das Land mittels einer Rekordernte an Zuckerrohr aus der Abhängigkeit von der Sowjetunion zu befreien. Für dieses Ziel waren alle anderen Wirtschaftszweige vernachlässigt worden, so dass beim Scheitern der Zafra de los diez millones Kuba schlimmer dastand als zuvor. Auch darüber berichtet Alma Guillermoprieto in ihrem verhaltenen Tonfall, nicht ohne Sympathie für Fidel Castro, aber doch mit Erstaunen über sein Credo, dass alles »nur eine Frage von Willensstärke und richtigem Handwerkszeug« sei.

Der Titel der deutschen Ausgabe ist der Tatsache geschuldet, dass alle Spiegel aus den Übungsräumen der Kunstschule entfernt worden waren, im Glauben, der Spiegel sei lediglich ein Symbol bourgeoiser Eitelkeit und Dekadenz, nicht ein unerlässliches Medium, mit dem die Tänzer ihre Arbeit begutachten und verbessern können. So gesehen sind die abmontierten Spiegel auch Sinnbilder einer Gesellschaft, in der die Herrschenden darauf verzichten, sich und ihre Handlungen zu überprüfen. Tun sie es doch, dann kann es ihnen wie Alma Guillermoprieto ergehen, als sie sich nach Monaten wieder in einem Spiegel betrachtete. »Aber ich sah niemanden darin, mich dem ich mich hätte anfreunden können.«

Alma Guillermoprieto: Havanna im Spiegel. Eine Erinnerung an die Revolution. Aus dem Span. und Engl. von Matthias Wolf. Berenberg Verlag. 296 S., geb., 26 €.

Der Österreicher Erich Hackl, geb. 1954, ist Autor des Diogenes-Verlages Zürich und Träger zahlreicher Literaturpreise.

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