Wie werden Helfer zu Rächern?
Parallelen: Der Amokläufer von Fort Hood, Nidal Malik Hasan, und Radovan Karadzic
Was bewegt einen Militärarzt, der sich bisher in der Heimat um traumatisierte Soldaten gekümmert hat, Amok zu laufen? Als Major Nidal Malik Hasan aus zwei automatischen Waffen das Feuer auf seine Kameraden eröffnete, soll er »Allah Akhbar« (Gott ist groß) gerufen haben. 13 Menschen starben, mehr als 30 wurden verletzt. Der in den USA geborene Muslim lehnte die Missionen im Irak und in Afghanistan ab, sollte aber trotz seiner Einwände in drei Wochen dorthin versetzt werden. Die Tat geschah in einem medizinischen Zentrum in Fort Hood, wo Soldaten vor einem Auslandseinsatz untersucht wurden.
Was lässt sich aus psychologischer Sicht zum Verständnis einer solchen Tat beitragen?
Die Erklärung, die sich gegenwärtig in den Stellungnahmen aus der Familie des Täters andeutet, ist ein psychotischer Schub. Der Täter ist plötzlich verrückt geworden. Der Cousin des Täters, Nader Hasan, stellte in einer Erklärung im Namen der Familie klar: »Unsere Familie liebt Amerika. Wir sind stolz auf unser Land und bestürzt über diese Tragödie.« Alles unverständlich, oder was?
Wer sich intensiver mit den seelischen Spannungen im Hintergrund der psychiatrischen und psychotherapeutischen Professionen beschäftigt hat, wird es sich so leicht nicht machen können. Nervenzusammenbrüche haben ihre Motive; sie beruhen auf sichtbaren und unsichtbaren Überlastungen. Der Beruf des Psychiaters wird nicht selten gewählt, um eigene Probleme zu bewältigen. Seelische Spannungen können nach außen verlegt und dort bearbeitet werden, nach dem Motto: Wenn ich schon mir selbst nicht helfen kann, tue ich es wenigstens bei möglichst vielen anderen.
Folgerichtig sind Nervenärzte die Facharzt-Gruppe mit der höchsten Quote von Selbstmorden. Ein Militärpsychiater und gläubiger Muslim aus einer Familie von Palästina-Flüchtlingen, der es sich zur Aufgabe macht, traumatisierten Kämpfern des US-Krieges gegen den Terror zu helfen, hat sich viel vorgenommen. Die Bilder des Täters zeigen einen unauffälligen Mann mit geschorenem Haar, depressivem Blick und weichen Gesichtszügen.
Den Laien erschüttert das Paradox, dass ein Arzt, der seelisch Kranke behandelt, sich selbst nicht nur nicht heilen kann, sondern sogar auf besonders dramatische Weise entgleist. Dem Kenner der hilflosen Helfer ist klar, dass diese Berufe immer von hohen Idealen und narzisstischen Größenvorstellungen gefährdet sind. Auch der serbische Politiker Radovan Karadzic machte eine Karriere als Psychiater, ehe er einen terroristischen Krieg anzettelte, der zu den grausamsten Ereignissen der letzten Zeit gehört.
Karadzics politische Schuld ist mit der 43 Monate andauernden Belagerung von Sarajevo von 1992 bis 1995 verbunden. Dabei wurden nach Schätzungen von Heckenschützen rund 10 000 Menschen getötet. Der frühere Arzt posierte in einem BBC-Video mit dem russischen Dichter Eduard Limonow auf einem Hügel, vor ihnen ein Maschinengewehr. Karadzic schießt kurz in die belagerte Stadt hinunter. Dann lädt er seinen Freund ein, es ihm gleichzutun. Limonow feuert in die Häuser Sarajevos.
Es wäre falsch, in Radovan Karadzic einen unauffälligen Arzt zu sehen, der sich zum sadistischen Politiker verwandelte. Er schrieb nicht nur schlechte Gedichte, sondern verbog auch ethische Vorgaben so, wie es seiner Grandiosität diente. Er war ein Scharlatan, wie es sie auch unter den studierten Therapeuten gibt, ein rücksichtsloser Charismatiker, wie sie die Ethikausschüsse der Ärzte- und Psychotherapeutenkammern beschäftigen. Es sind dann freilich meist Delikte, die neben den Verbrechen von Radovan Karadzic harmloser wirken: Ärzte, die ihre greisen Patientinnen dazu bringen, sie als Erben in ihr Testament zu setzen, Psychotherapeuten, die durch Schäferstündchen die Erotik gehemmter Patientinnen zu fördern behaupten.
Wer die Größenfantasien im Hintergrund der Berufswahl nicht zähmen kann, wird sich vom aufopfernden Helfer in einen durchschnittlichen Egoisten verwandeln. Er greift nach den bereitliegenden Rachemodellen, sobald er sich in seinem grandiosen Anspruch missachtet fühlt. Karadzic verwandelte sich vom einfühlenden Arzt in den rassischen Säuberer. Hasan verkörperte in seiner Tat eben den Albtraum, von dessen Macht er die traumatisierten GIs erlösen sollte: den Terroristen, dem fremdes und eigenes Leben egal sind, wenn er nur möglichst viel Schrecken verbreiten und seinen Namen unsterblich machen kann. Wenn ihn eine Polizistin nicht unerwartet niedergeschossen hätte, wäre er mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eigene Hand gestorben. Dass mitten in einer texanischen Garnison Schüsse fallen und Menschen sterben, trägt die Ängste irakischer und afghanischer Straßen ins Herz der Streitmacht.
Ein Muslim, der in der Armee dient, lebt zu Zeiten der von Bush verkörperten und von Obama noch längst nicht überwundenen Kreuzzüge gegen den Terror in großer Anspannung. Das US-Militär ist stolz darauf, weniger rassistisch zu sein als der Rest der Bevölkerung – was aber ganz und gar nicht heißt, dass es Minderheiten dort leicht haben. Bald werden sich kritische Geister mit Vorgesetzten beschäftigen, die nichts Einfühlenderes zu tun hatten, als einen Muslim gegen seinen Wunsch in den Irak zu kommandieren. Das ist schlechte Führung und weckt den Verdacht, dass es das Mobbing, welches Hasan beklagt haben soll, tatsächlich gegeben hat. »Er ist nicht ganz auf unserer Linie – da machen wir für ihn doch keine Ausnahme, wo kämen wir hin, wenn sich ein Berufssoldat gegen einen solchen Einsatz wehren könnte!«
Die Zerstörung einer früher vertrauensvollen Beziehung zu Vorgesetzten ist ein wichtiger Risikofaktor beim Zusammenbruch der Abwehr einer narzisstischen Störung. Man muss sich vorstellen, dass Hasan schon lange in einem extremen Spannungszustand lebte, den er durch den Halt an seiner Umgebung, an seinen Vorgesetzten, an seiner Aufgabe ausgleichen konnte. Die drohende Versetzung gefährdete dieses labile Gleichgewicht und führte geradewegs in die Chiffre des Terrorismus: Ich will ein Zeichen setzen, dass ihr es für immer bereuen werdet, mich so wenig beachtet zu haben!
Unser Autor, der Münchner Psychoanalytiker und Buchautor Wolfgang Schmidbauer, prägte 1977 den Begriff des Helfer-Syndroms. Eines seiner letzten Bücher: Psychologie des Terrors. (Gütersloh 2008).
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