Verwunderungen

Rainer Malkowsi: »Die Gedichte«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenn einem bekannt sei, dass einer erblindete, so Georg Lichtenberg, dann sehe man es diesem Menschen auch von hinten an. Rainer Malkowski litt an einer schweren Augenkrankheit, die ihn über lange Zeit und bitternah an den Rand der Finsternis trieb. Dies wissend, wittern wir bei diesem betörend gutartigen Dichter von früh an eine besondere Sehschärfe, eine geradezu zitternde Fühligkeit für die Brechungen, Flüchtigkeiten und Verzauberungskräfte des Lichts, ebenso für die Kraft der Schatten, die aus allen Seelen und Dingen hervornebeln.

So also ist es gemäß des Lich-tenbergschen Thesenspruchs nicht zu verhindern: Der Blick vom Ende und von der ständigen Gefährdung her auf alle Phasen des poetischen Werks – der Lyriker veröffentlichte sieben Gedichtbände – beizt noch die einst unbekümmerten Heiterkeiten im Nachhinein mit Dunkelstoff. Es brennt sich geradezu ein, mit welcher Trefflichkeit Malkowski, beizeiten so gültig!, die Alltäglichkeiten, Profanbeobachtungen und Unscheinbarkeiten in einen Ausdruck zwingt, nein!, natürlich nicht zwingt, sondern geleitet; und im Vers weitet sich dieser Geringstoff des gewöhnlichen Lebens auf ganz unangestrengte Weise zur erschütternden Wahrheit. Das Gedicht ist eine »weitgeöffnete Tür/ zu einem Zimmer,/ das keinen Boden hat«.

Wo der Mensch ist, so erzählen die Gedichte, tummeln sich nicht Wesen wie alle anderen im Licht der Sonne, sondern es geschieht eine Erleuchtung, die die Welt überhaupt erst offenbart. Erst in unserem Augenaufschlag kommt die Welt gewissermaßen zu sich. Augenaufschlag ist Weltaufgang, und der Dichter, der seine Augen als kostbares Weltschaffungsorgan so ausdauernd bedroht erleben muss, scheint eine trotzig intensive Gabe zu besitzen – die Umwandlung seiner Sehkraft für die bewegte Oberfläche der Welt in die Anschauung von Ideen, in denen sich Hören und Sehen zu etwas vereinen, das uns nicht vergehen möge. Als brenne im unruhigen Flackern der Dinge immer schon das Ruhelicht letzter Grundlagen, die über das Leben hinausführen werden.

Das Wissen darum ist eine Stärkung für das Leben, kein Kraftentzug. Nichts, worauf er wahrnehmend stößt, bleibt diesem Dichter leblos, auskunftslos, und so fühlt er sich ganz selbstverständlich ein in Dinge wie etwa einen Stein, der »kostet es aus,/ wenn ihn jemand träumerisch/ in der Hand wiegt –/ vorübergehend Mut fasst/ beim Gedanken an ein so altes Wort/ wie Ewigkeit./.../ Ein Zerstörbarer, der sich rächt,/ weil wir ihn/ für tot Natur halten«.

Du liest diese Gedichte und bist plötzlich auf ganz eigentümlich rührende, besänftigende Weise befreundet mit jener Verletzbarkeit deines Daseins, die dich täglich mit überraschend aufkommenden Schüben quält, weil sie dich an Verwitterung, Einsamkeit, Tod, Unerlöstheit denken lässt. Mit Malkowski lässt sich gut staunen, wie man mit den Unfassbarkeiten der Existenz doch weiterlebt, jeden Tag ein Stück unsicherer, hautdünner und doch auch auf seltsame Weise gefasster. Als »Frommen Wunsch« formuliert der Poet: »Niemals soll kommen/ das Ende/ der Vorläufigkeit.«

Malkowski, 1939 in Berlin geboren, eine erfolgreiche Zeit in der Werbebranche tätig, lebte ab Anfang der siebziger Jahre im selbstgegebenen Dichterauftrag. Ein stiller, tapfer frei Schaffender, beseelt abseits. 2003 starb er, sieben Jahre hatte er gegen den Krebs gekämpft, und trotz der renommierten Preise, die er erhielt, bleibt uns das Bild eines marktfernen Schriftstellers, dessen zurückziehende Existenz (nicht: zurückgezogene, denn wer zöge da, wenn nicht der mutige stolze Einsiedler selbst?!) sehr genau festhält, was wichtig ist: »Unerwarteter Gesang.// Die Treue zu Bäumen,/ die nicht in den Himmel wachsen.// Alles, was du nicht kannst.// Nachsicht und Unnachgiebigkeit/ im richtigen Verhältnis.// Schlecht rechnen/ in Menschendingen.«

Des Dichters Selbstbewusstsein erwuchs aus der einzig bedeutsamen Verbindung von Schreibendem und Lesendem: Einsamkeit zu Einsamkeit. Dieser Chorus der solcherart Vereinzelten als wehrhafter Trupp gegen die uniforme Masse der Individualisten – in wechselnden Zeiten, die immer Zeiten des Geistinfarkts sind. Und dieser Geist ist bei Malkowski ein sanftes Wesen, das die Dinge nie frontal angeht. Das schönste Licht dieser Gedichte ist das Streiflicht, »man kommt ins Gespräch/ mit seinem immer ausführlicher/ werdenden Schatten.// Wenig Neues/ dabei zu erfahren.// Aber das Alte gewinnt/ seine Wahrheit zurück,/ dass es einem/ die Kehle zuschnürt.«

Im klugen, einfühlsamen Nachwort schreibt Herausgeber Nico Bleutge, Malkowskis letzter Gedichtband »Die Herkunft der Uhr« mache die aseptische Stimmung von Krankenhäusern fühlbar und die Angst vor der Einsamkeit. Doch allen resignativen Tönen zum Trotz habe der Dichter nicht den Glauben an die Kraft der Sprache verloren. »Es sind der Schnee und die Luft, die er in seinen letzten Gedichten umspielt hat«. Beides Botschafter der Leichtigkeit, und so konnte er am Ende auch noch einmal »wunderbar genau über die Liebe und das Sehen schreiben, zwei große Mächte, die sich allem entgegenstemmen, und die in der Lage sind, die Wiederholungen des Alltags aufzubrechen, und sei es auch nur in Form kleiner Variationen«.

Dies sind Gedichte einer unbewaffneten Nachbarschaft. Der Dichter ist nicht unberührt vom Grau bürgerlicher Mittellagen, aber zwischen Alltagszwang und Befreiungswunsch, zwischen Traumzeit und Leistungszeit herrscht, währenddessen uns die Jahre unbemerkt vergehen, der rege Verkehr der nützlichen Illusionen: »Immer noch bin ich versucht,/ zu denken: morgen/ beginnt das Leben«. Dies unbegriffen gärende Ereignis Leben!, das ruppige Tatorte und charmante Unterlassungsorte zu bieten hat. Rainer Malkowski führt uns an Zweitere, wo der schönste Nachruf wäre, wir seien an unseren schweren »Verwunderungen« gestorben.

Dorthin führt er uns also, wo das Dasein nicht jenes komplizierte und frustrierende Planerfüllungs- und Nachholgeschäft ist, nicht dieses arme Vertagungs- und Vermeidungsspiel, keine dieser geläufigen Umschuldungs- und Abzahlungsaktionen, in die wir fortwährend verstrickt sind. In Malkowskis Welt sitzen nicht Realisten aller Couleur auf der Reservebank und warten auf die Wiederkehr ihrer Auftritte für lauter Absagen. Dieser Dichter macht uns neugierig und wach für jeden Moment; das ist für ihn etwas, das man nicht zweimal sagen muss, aber immer wieder neu in möglichst unzähligen Gedichten. Die Gedichte eines Meisters liegen nun in einer wahrlich schönen Ausgabe vor. Ein Geschenk für Menschen, die diesen Vorsatz teilen: »Nie/ will ich sagen müssen: /ich habe mir die Welt/ nicht genau genug/ gemerkt.«

Rainer Malkowski: Die Gedichte. Hrsg. von Nico Bleutge. Wallstein Verlag Göttingen. 764 S., geb., 29,90 €.
Zu beziehen auch über ND-Bücherservice, Tel. (030) 2978 1777.

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