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Zeitenwende im Zentralorgan
Im Herbst 1989 musste sich auch das »Neue Deutschland« verändern, um zu überleben
Im Sommer 1989 war die DDR-Welt noch weitgehend in Ordnung, zumindest im »Neuen Deutschland«. Das SED-Zentralorgan berichtete über den Aufbau des Sozialismus, feierte Erfolge bei der Planerfüllung und lobte den Tatendrang der Werktätigen. Dass viele Menschen zunehmend unzufrieden mit der Versorgungslage waren, dass es anhaltende Proteste gegen die manipulierte Kommunalwahl vom Mai gab – das kam im ND nicht vor. Dass seit Wochen immer mehr DDR-Bürger Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Budapest besetzten und ihre Ausreise verlangten, erfuhr man aus dem ND nur in Form von bissigen Kommentaren oder propagandistischen Nadelstichen gegen den Westen, die mit Information nichts zu tun hatten.
Ende Juli, als die Sommerferien zu Ende gingen, wurde ich als Jungredakteur in eine Berliner Schule geschickt. Ich sollte über die Unterrichtsvorbereitungen schreiben und unterhielt mich mit der Parteisekretärin. Wir redeten über Lehrpläne, Sanierungsarbeiten im Schulhaus, Elternversammlungen. Das Übliche. Und dann stellte ich in der Hoffnung auf eine druckreife, klassenmäßige Antwort die reichlich naive Frage: »Wenn die Schüler über die Massenflucht gerade junger Leute aus der DDR sprechen wollen – was sagen Sie ihnen?« Die Frau schaute mich entgeistert an und fragte zurück: »Was sollen wir denn sagen? Das ND schreibt ja nichts darüber.« Damit war das Gespräch praktisch beendet. Zwei Ratlose saßen da und wussten nicht weiter.
Getrieben von den Ereignissen
So war das beim Zentralorgan im Spätsommer und Frühherbst vor 20 Jahren: Es hinkte der Entwicklung hoffnungslos hinterher. Die Redaktionsleitung war verunsichert und linientreu. Ein Bericht über die Demos in Leipzig, über die man in anderen Medien der DDR schon hören oder lesen konnte, wurde abgelehnt – die jungen Redakteure, die ihn vorgeschlagen hatten, mussten in Berlin bleiben. Eine fertige Reportage über DDR-Flüchtlinge, die nun in Westberlin saßen und aus verschiedensten Gründen zurück wollten – eigentlich ein Thema, das in die Agitationslinie gepasst hätte –, blieb ungedruckt: »Das schließt ihr mal ganz fest ein«, sagte ein leitender Redakteur einem der Autoren.
Noch Ende Oktober, Anfang November derselbe Verlautbarungsjournalismus wie immer, nur dass der Generalsekretär jetzt nicht mehr Erich Honecker hieß, sondern Egon Krenz. In Parteigruppen der Redaktion wurde lebhaft diskutiert – wie übrigens auch schon in den Jahren zuvor; nur sah man das der Zeitung nicht an. Man musste schon sehr genau hinschauen und lesen, um Nuancen, Veränderungen zu entdecken. So hieß es in einer Nachricht am 2. November auf Seite 1 über eine Tagung des Eingabenausschusses der Volkskammer, das Gremium habe nach eigener Einschätzung zwar auf Probleme aufmerksam gemacht, »aber nicht entschieden genug auf die Beseitigung von Missständen gedrängt«. Um auf einer ND-Titelseite die Erwähnung innenpolitischer Missstände zu finden, musste man wohl sehr, sehr weit zurückblättern.
Noch dominierten nach wie vor lange Kommuniqués über die Tätigkeit der Partei- und Staatsführung, teils seitenlange staatstragende Stellungnahmen von Verbänden und Institutionen, Reden, Kongressberichte. Gesellschaftliche Debatten, so weit im ND widergespiegelt, wurden von der Elite des Staates geführt, gemischt mit ein paar moderat kritischen Leserbriefen. Selbst die Titelnachricht vom 8. November über die Kapitulation der Regierung Stoph ein Beweis tief eingeübter Staatshörigkeit: »Ministerrat der DDR hat beschlossen, zurückzutreten« hieß die Schlagzeile – noch im Abgang die Simulation von Eigeninitiative, als sei nicht schon längst die alte Macht eine Getriebene.
Und mit ihr das »Neue Deutschland«, das sich mit dem Versuch mühte, den Zeichen der Zeit gerecht zu werden. Die Zeitung schwebte in einem Vakuum: Der alte Chefpropagandist der Partei, Joachim Herrmann, einst selbst ND-Chef, war mit Erich Honecker abgesetzt worden, der aktuelle Chefredakteur war abgetaucht. Die Berichterstattung von der Großdemonstration am 4. November: umfangreich, akribisch, ganz offensichtlich darauf aus, den Vorwurf althergebrachten parteiischen Auswählens und Weglassens zu vermeiden. Am Tage der Demo auf der Titelseite großformatig eine Ansprache von Egon Krenz an die Bürger der DDR, weiter hinten eine Seite Leserbriefe, in denen es um Zustimmung zur Wahl von Krenz zum Parteichef, um die führende Rolle der SED, fehlende Damenkonfektion, Bürokratie, Leistungsbereitschaft und unsinnige Lebensmittelverpackungen ging. Noch weiter hinten ein Aufsatz von Gesellschaftswissenschaftlern über die Erneuerung der sozialistischen Demokratie. Ganz allmählich drang das Problembewusstsein in den Spalten des ND durch, aber immer noch im Geiste des langjährigen Parteimottos, Probleme »im Vorwärtsschreiten« zu lösen.
Günter Schabowski, auch er einige Jahre ND-Chefredakteur und seit dem Sturz Honeckers der zweite Mann in der SED-Führung hinter Krenz, gab auf einer Tagung des Zentralkomitees Mitte November die Leitlinien einer neuen Medienpolitik vor: Von mündigen Bürgern und mündigen Journalisten war die Rede; »niemals wieder« werde die Partei Journalisten »in die Lage bringen und so behandeln, als wären sie politische Wickelkinder, die sich nur rühren, wenn ihnen das politische Anleitefläschchen gereicht wird«. Schluss mit dem Schönfärbe- und Abwartejournalismus, mit der Täuschung der Leser durch Produktionsstatistiken – sämtlich Vorsätze, die Schabowski auch aus eigener Erfahrung bezog: »Ich werde und will versuchen, Genossen, in meiner Branche die Sünden der Vergangenheit wettzumachen.«
Programm und Lernauftrag
Was ihn indessen nicht davon abhielt, der ND-Redaktion einen neuen Chef seiner Wahl vorzusetzen. In der Redaktion waren inzwischen Personaldebatten ausgebrochen. Mancher meinte, die alte Führung müsse komplett weg; andere wollten keine Hexenjagd erleben. Als Schabowski in einer turbulenten Betriebsversammlung einen neuen Chefredakteur vorstellen wollte – den langjährigen Vizechef Harald Wessel –, verlor er die Kontrolle. Es gab Protest aus der Belegschaft; Wessel sah man trotz aller journalistischen Wertschätzung nicht als Mann der Erneuerung. Als eine altgediente Redakteurin, eine kleine, resolute, im Kollegenkreis geschätzte Frau ihren Mut zusammennahm, nach vorn marschierte und mitteilte, wenn »der Harald« der neue Chef werde, dann gehe sie, war die Personalie vom Tisch.
Mitte November wurde ein neuer Chefredakteur eingesetzt: Wolfgang Spickermann, langjähriger Leiter der Redaktionsabteilung Wissenschaft, Physiker. Ein nüchtern kalkulierender Mann, der die Zeitung in den 90er Jahren auch als Geschäftsführer an mancher Klippe vorbeisteuerte. Einer seiner Stellvertreter: Rainer Oschmann, ein Auslandsredakteur, der in den 90ern Chefredakteur werden sollte. Spickermann kündigte den Lesern neue Inhalte an, mehr Information, politische Standpunkte, zeitgemäße journalistische Formen. Ein Forum demokratischer Willensbildung in der Partei solle das Blatt werden, mit mehr Lebensnähe und Wahrhaftigkeit.
Da hieß die Partei noch SED und das »Neue Deutschland« im Untertitel noch »Organ des Zentralkomitees« der SED. Ab 4. Dezember erschien ND als Zentralorgan der SED – ein kleiner, entscheidender Unterschied. Nicht mehr Sprachrohr der Führung, sondern Plattform für die gesamte Partei sollte die Zeitung sein; dies sei, erklärte Spickermann auf der Titelseite, »eine erste Entscheidung des Arbeitsausschusses zur Vorbereitung des außerordentlichen Parteitags der SED«.
Dieser Status war von sehr kurzer Dauer. Die Ereignisse überschlugen sich in der DDR, in der SED, in deren führender Zeitung. Ab 18. Dezember erschien das Blatt mit dem Untertitel »Sozialistische Tageszeitung« und ohne die Marx-Engels-Losung »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Die Erklärung folgte einen Tag später unter der vielsagenden Überschrift »Neu im Kopf«: ND solle eine linke pluralistische Zeitung werden, die nicht nur an kommunistisches, sondern auch an sozialdemokratisches, antifaschistisches, pazifistisches Erbe anknüpft. »Das stereotype Vorantragen von Losungen oder Leitsätzen« helfe nicht weiter. Der Titel »Neues Deutschland« indessen blieb bis heute, trotz mancher Diskussion darüber. Eine Umbenennung wäre gewiss als Etikettenschwindel ausgelegt worden. Und außerdem: Ein Markenzeichen ist ND allemal – inklusive seiner schwierigen Geschichte.
»Sozialistische Tageszeitung« – das war zunächst Programm und ein lange anhaltender Lernauftrag. Friedrich Schorlemmer wunderte sich Jahre später im Rückblick immer noch, dass »ausgerechnet dieses ehemalige Linienblatt« plötzlich freie Diskussionen zuließ, »die bis an die Grenze des Selbstzerstörerischen gehen«. Und der Grünen-Politiker Werner Schulz erinnerte 1996 – um einen Gruß zum 50. Gründungsjubiläum der Zeitung gebeten – zu Recht daran, warum das ND im Herbst die Chance bekam, »eine richtige Tageszeitung« zu werden: Dies sei »letztlich auch ein Verdienst der Bürgerbewegung. Jener, die im ND als Staatsfeinde und Konterrevolutionäre verfemt wurden.«
Am nächsten Montag:
Interview mit Walter Momper
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