Das Fest der Liebe und der Lieblingsmörder
Dirk Werner
Das Hitchcock, die berühmte Kneipe in Hohenschönhausen, glich einem Pflanzen-Hospiz. Zwischen allen bräunelnden Verblühten schwachgrünte nur noch ein Kaktus, und während der gesamten Adventszeit war Kuno, der Wirt, dabei, nun auch bei ihm aktive Sterbehilfe zu leisten, indem er dreimal täglich goss. Das tat er aus reiner Vergesslichkeit – und damit er überhaupt etwas zu tun hatte. Als einziger Gast vermochte ich die Sukkulente nicht zu retten, denn auch ich wurde regelmäßig gegossen. Bis dann eines Tages mein Freund, der berühmte Detektiv Hollmes, kam. Und ich urplötzlich aus meinem Kakteenkoma erwachte: »Wollen wir nicht einen Spaziergang machen, Hollmes? Einen weihnachtlichen Einkaufsbummel?«
Mein Freund grinste. Er hielt er einen eins-komma-fünf Zentimeter großen Tannenbaum in seinen Händen – immergrün, weil aufblasbar. Und über den bunten Dampf eines noch bunteren Getränks hinweg, das Kuno kreiert hatte, sagte er: »Watzon. Verfolgen wir doch unseren Lieblingsmörder.«
Für die Getränke nahmen wir im Hitchcock einen weiteren Kredit auf und traten auf die Straße. Wenn unser Mörder tun muss, was ein Mörder tun muss, hält es ihn nicht in Hohenschönhausen. Er schlitzt weder gern in Hellersdorf, wo Hollmes in einem Seniorenstift lebt, noch in Marzahn, wo ich in einem Seniorenstift wohne. Wahrscheinlich sind ihm diese Gegenden schon zu tot. Im Tiergarten aber erblickten wir ihn endlich. Seine Augen blitzten bestialisch, killing moments standen uns bevor, so viel war sicher. »How lovely«, murmelte mein Freund.
Eigentlich hätten wir ihn schon lange überführen können, doch wir können uns die GEZ nicht leisten, und ein bisschen Spaß wollen wir auch. Wenn schon nicht das Gelenkeverrenken beim Geschenkeverschenken.
»Ich sehe was, was Sie nicht sehen«, sagte Hollmes. Er hatte sich gebückt, die Teile seines zwölffach gerissenen Schnürsenkels ein dreizehntes Mal zu verlinken. »Damit zusammenwächst, was zusammengehört«, murmelt er dabei oft so beschwörend wie erfolglos, aber heute fuhr er fort: »Und das ist orange, Watzon.«
»Orange?«, nahm ich sofort unser liebstes Spiel auf, dem wir nachgehen, wenn unser Lieblingsmörder gerade nicht mit seinen Opfern spielt: »Sie meinen doch nicht etwa die Briefkästen?« – Mein Freund schnaubte verächtlich.
»Aber es gibt hier doch so viele« – ich wies auf eines der orangenen Behältnisse, deren Öffnungen so groß sind, dass sogar ein Rentner mit seinem Brief dort hinein trifft.
»Das sind Abfallbehälter, Watzon. Stadtreinigung. Wussten Sie das nicht?« – »Aber …« Hollmes winkte ab. »… und das ist orange«, beharrte er. In diesem Augenblick erhielt ich von hinten einen Stoß. Sofort musste ich an den Lieblingsmörder denken und schrie. Ich wirbelte durch die Luft und fand mich auf dem Lenker eines Fahrrads wieder, das den Fußweg hinabschnellte. – Hollmes hatte Recht, das Fahrrad war orange. Beim Puzzle mit seinen Schnürsenkelresten hatte er es durch seine Beine hindurch rasen gesehen. Da ich von nichts wusste und nicht rechtzeitig auf die Straße auswich, schnappte mich die Pedaleurin mit der Gabel ihres Vorderrades vom Bürgersteig wie einen heißen Happen vom Silvesterbuffet. Drei rote Ampeln später forderte sie im Anhalten vierzig Euro, da ich ihr endlich als Schwarzfahrer in ihrem orangenen Express aufgefallen war. Von weit hinten klang Hollmes' freundliches Lachen herüber.
Inzwischen hatte Angler Merkel seinen ersten Mord begangen. Wir nennen unseren Lieblingsmörder Angler Merkel, weil er viel Langmut aufbietet, ehe er sein Opfer mit dem stählernen Angelhaken des Schicksals aufschlitzt. Er kann sehr lange warten, deshalb: Angler. Und eigentlich sieht er nicht so grausam aus, wie er ist, deshalb: Merkel. Die alte Dame, sein Opfer, lag aufgeschlitzt im Rinnstein. Sie trug heute Grau, das sich im Brustbereich allmählich dunkel verfärbte. Hilflos schnappte ihr kleiner, alter Schnabel.
»Ich rieche was, was Sie nicht riechen«, sagte ich jetzt, mich abwendend und so harmlos wie möglich, denn ich war an der Reihe. Mit den Händen deutete ich Enormes an. Mein Freund hob seine große Nase, also die Nase eines großen Detektivs. »Es riecht, Watzon …«, seine Finger arbeiteten in der Luft, griffen nach nicht Greifbarem wie Schneeflocken, »politisch. Nicht wahr? Nach Volksentscheid.« Er fixierte mich aus Augenschlitzen: »Nach Freiheit, Demokratie, Harmonie, Besin- nung …«.
»Also – nach Weihnachten?« Mein Freund schüttelte den Kopf. Er hatte eine Vision vor seinen geschlossenen Augen. In der Nähe schepperte und zuckerwattete und glühweinte eine Art Weihnachtsmarkt. – »Es ist das Odeur der Freiheit, Watzon!«, rief er voller Enthusiasmus. Doch da war es schon passiert. Hollmes stand inmitten der Hinterlassenschaften eines Hundes, der eine Kreuzung zwischen Büffel und Bernhardiner sein musste.
An der Ecke geschah blitzartig der zweite Mord. Angler Merkel beförderte gekonnt eine Dame in Weiß ins Jenseits, ein zartes, weißes Täubchen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Da sich ihr Kleid großflächig an zwei Stellen in ein rotes verwandelte, sah sie bald aus wie die österreichische Fahne. Zum Glück passierte dieser Mord im Kleinen Tiergarten zwischen Turmstraße und Alt-Moabit. Für das geschlitzte Opfer war es natürlich kein Glück, und die Gaffer und Gafferinnen drängelten schon. Allein, ich sah die Toilette in der Grünanlage, sah also etwas, das keiner mehr sieht, da sie seit fünfzehn Jahren völlig geschlossen ist. Dahin drängte ich Hollmes, sich zu säubern. Auf wunderbare Weise passt dort nämlich der Schlüssel, der noch aus unserer Zeit als Kaufhausdetektive herrührt. Eigentlich führte er damals zur Kaufhauskirche, die mit ihrem Altarraum im Kaufhaus des Westens nach Osten zeigt, und in der wir so oft eine südländische Siesta hielten.
Gereinigt traten wir auf die Straße und gingen zum Kaufhaus gegenüber. »Ich sehe was, was Sie nicht sehen, und das ist klein, beweglich, gierig und geizig«, brummte Hollmes, als wir zu Hertie überquerten. Ich sah mich um. »Ein Mensch?« Er nickte. »Klein?« »Einen Kopf größer als ein Feuerlöscher.« – »Gierig und geizig?« In Gedanken ging ich die Reihe kleiner und sehr kleiner, geiziger und sehr gieriger Politiker durch. Indes waren auf dem Wühltisch vor uns die Dinge in Bewegung, in Windeseile wurde herausgegriffen und zurückgeworfen, begutachtet, befühlt und weiter entwertet. Und plötzlich packte eine Hand vor uns auf dem Tisch etwas Größeres und zog es vor die Augen aller potenziellen Käufer. Das Etwas strampelte und prustete, griff noch im Gegriffenwerden nach den Waren, und siehe da, es war ein Mensch, ein alter Mensch.
»Antoinette«, staunte ich. Hollmes lachte. »Richtig.« Die Dame ist wie ich Bewohnerin im Marzahner Seniorenstift »Olle Tage« und wirklich nur hydrantengroß. Sie war – irgendwie – auf den Wühltisch geklettert, war vom Rand ins Meer der Dinge gefallen. Auf der Erde angelangt, ordnete sie die Kleider und ging ohne Gruß davon. Mit Menschen, die nur ins Kaufhaus gingen, um anderen beim Klauen und Kaufen zuzusehen, wollte sie nichts zu tun haben.
Derweil war an der Ecke Beusselstraße ein neuer Mord passiert, besser gesagt, ein Dreifachmord, wie es Hollywood nicht besser kann. Die schlanken, entkopften Leiber zuckten und wanden sich auf dem Asphalt. Gegenüber hielten zwei Krankenwagen. Hollmes zog mich in einen Hauseingang. »Kann sein, die sehen in uns etwas, was wir nicht sehen«, flüsterte er und wies auf die Ärzte.
»Sie meinen: Patienten?«, flüsterte ich zurück. Er nickte.
Der Morde müde bewegten wir uns durch geschicktes Schwarzfahren zurück in den Osten. Dabei mussten wir mehrfach aus- und umsteigen, warten und uns verstecken, was uns Freude bereitete. Auf der Brücke schließlich, die vom S-Bahnhof Storkower Straße hinüber zum Storkower Bogen führt, sagte Hollmes unvermittelt: »Ich sehe was, das Sie nicht sehen. Es ist durchsichtig, Watzon.« (Mein Weihnachtsgeschenk an ihn: Er war drei Mal hintereinander dran.)
In einiger Entfernung öffnete ein Mann ein Fenster in der gläsernen Wand der Brücke und stieg in die Fensteröffnung. Ich packte Hollmes am Arm. Was bedeutete das? Wollte er springen? Sah Hollmes in Gedanken schon seinen Geist von den Gleisen zu uns aufsteigen?
»Durchsichtig steigt es auf und führt uns gelinde in den Tod«, präzisierte Hollmes. Der Mann war schon zur Hälfte durch den Rahmen hindurch. Ich ließ meinen Rollator los, wollte hinrennen, ihn retten, aber mein Freund hielt mich zurück. »Sehen Sie?« – Mit einer Stange Zigaretten, die er von außerhalb aus einem Versteck geholt hatte, kletterte der Vietnamese auf die Brücke zurück. »Sie haben es nicht herausbekommen, Watzon«, sagte Hollmes. »Ich meinte den Zigarettenrauch.« Dann kaufte er eine Schachtel.
Wieder in der S-Bahn sagte Hollmes: »Ich sehe etwas, was Sie besser nicht sehen«. Er hatte Recht: Kontrolleure regen mich furchtbar auf. Und da hinten kam einer. Ich nahm also die Zeitung aus der Tasche und setzte mich von ihm fort auf die andere Seite des Gangs. – »Die Fahrscheine bitte.« Hollmes sah den Kontrolleur missbilligend an und wühlte umständlich in den Katakomben seiner Hosentaschen. Endlich zog er einen Fahrschein hervor.
»Der ist …«, der Kontrolleur überlegte, »von gestern.«
»Wie bitte?« Hollmes musterte ihn kritisch wie einen Weihnachtsengel.
»Von gestern. Vom Zweiundzwanzigsten. Heut ist der Dreiundzwanzigste«, knurrte es aus der Uniform.
»Hatten Sie auch Kalender im Unterricht?«, fragte Hollmes: »Heute ist nämlich erst der Zwei- undzwanzigste.«
Der Kontrolleur widersprach erneut. Hollmes wandte sich wie schüchtern an mich. »Darf ich Sie kurz stören?« Ärgerlich ließ ich die Zeitung sinken und musterte die beiden.
»Welchen haben wir heute?«
»Was soll das? Kann man hier nicht einmal in Ruhe seine Zeitung lesen?«
»Der Herr behauptet, heute wäre gestern«, der bärige Kontrolleur wies auf Hollmes. »Könnten Sie uns sagen, welches Datum wir heute haben?«
»Nicht so ohne Weiteres. Muss ich nachschauen.« Ich fabrizierte einen Fahrschein ans Licht und nahm ihn in Augenschein: »Eben gekauft«, sagte ich obenhin. »Da müsste es ja drauf stehen.« Nach einer angemessenen Pause nahm ich den Kontrolleur kritisch in Augenschein. »Ihre Dienststelle, Mann. – Wer schickt Sie? – Heute ist erst der Zweiundzwanzigste. Ein bisschen übereifrig, wie?« Ich ließ meine Zwiebel aufschnappen. Die Datumsanzeige kann nur Zweiundzwanzig. Außerdem wies ich auf das Titelblatt meiner Zeitung: »Der Zweiundzwanzigste, sehen Sie?« In Hohenschönhausen, wo ich das Blatt erworben, gibt es bloß Zeitungen vom Vortag, allerdings für den halben Preis.
Der Kontrolleur versuchte nun, seine engen Uniformjackenärmel zu krempeln: »Das macht siebenundvierzig Euro. Plus zwei Euro Trinkgeld.« Als unwiderrufliches Urteil hielt er eine seiner riesenhaften Hände auf. Hollmes trat den Rückzug an: »Aber wieso neunundvierzig?»
Der Uniformierte rechnete an einigen seiner gigantischen Finger vor. »Vierzig fürs Schwarzfahren. Sieben für die Zeche heute Morgen im Hitchcock. Und zwei Euro Trinkgeld.«
Wie Uniformen doch vorteilhaft verändern! Aus Männern Männer machen. Es war Kuno, unser Wirt aus Hohenschönhausen, der uns als Kontrolleur gegenüber saß.
Nach uns waren keine Gäste mehr ins Hitchcock gekommen. Da hatte er beschlossen, auch einen Spaziergang zu machen, den ersten in diesem Jahr. Dafür zog er die teure Postuniform seines Großonkels an, der sich damals beim Abstempeln eines Eilbriefes schwer verletzt hatte, und fuhr kontrollspazieren.
Am Abend dieses feinen Vorweihnachtstages wusste ich weder, wer ich war, noch wo ich wohnte, so müde war ich. Doch die beiden brachten mich noch bis zum Bahnhof in Marzahn. Kaum stand ich dort allein auf dem Bahnsteig, schnurrte es an meinen Hosenbeinen. »Angler Merkel!«, rief ich. »Hast du ausgemordet? Wir wähnten dich noch drüben im Westen!«
Der schwarzweiße Kater dehnte sich und gähnte behaglich. Er blinzelte mich an. Er ist das einzige Katzentier, das in Berlin erfolgreich die Taubenplage bekämpft. Auch heute hatte er ja wieder ein paar erwischt – eine graue, eine weiße, allein drei in der Beusselstraße.
Hollmes und Watzon aus dem Altersheim treffen sich in der Kneipe »Hitchcock« in Hohenschönhausen. ND-Leser wissen aus früheren Geschichten von Dirk Werner, dass da Haarsträubendes zu erwarten ist.
Skurriles, Überraschendes und in der Tiefe Besinnliches wie in dem hier erstveröffentlichten Text.
Der Autor, 1961 in Gera geboren, ist an der Ostsee aufgewachsen, sammelte Erfahrungen in verschiedensten Berufen – als Kellner, Kraftfahrer, Pfleger in der Psychiatrie, Friedhofsarbeiter, Spielzeugverkäufer, Kindergärtner. Er ließ sich zum Sozialtherapeuten und Fotodesigner ausbilden, war anschließend Texter und Fotograf in einer Werbeagentur; gibt heute Unterricht, leitet Fotoprojekte und -workshops (unter anderem in der Merz-Schule in Stuttgart).
Er lebt und arbeitet als Autor und Fotograf in Esslingen.
Seine jüngste Buchveröffentlichung, »Schlaffaffenland« (Abraxas Verlag, 110 S., brosch., 11 €) sei all jenen empfohlen, die mehr von Hollmes und Watzon lesen wollen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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