Lateinamerikas soziale Bewegungen
Sammelband vermittelt einen lehrreichen Überblick über politischen Protest auf dem Subkontinent
Die sozialen Bewegungen haben es weit gebracht in Lateinamerika. Am weitesten bisher in Bolivien. Dort sind sie in der Regierung angekommen, was logischerweise ihren Charakter verändert. Denn »soziale Bewegungen« beschreibt als Begriff – stark vereinfacht – eine außerhalb und gegen die Regierung stehende Interessengruppe. »Soziale Bewegungen, die sich als Emanzipationsbewegungen gegen rechtliche Unterdrückung, ökonomische Ungerechtigkeit und mangelnde politische Partizipationsmöglichkeiten zur Wehr setzen, haben in Lateinamerika eine lange Tradition.« So fassen Georg Ismar und Jürgen Mittag als Herausgeber eines neuen Buches zu den sozialen Bewegungen des Kontinents zusammen. Tradition und Gegenwart von so vielen unterschiedlichen Bewegungen in einem Band vereint, das ist ein waghalsiges Unternehmen. Herausgekommen ist aber ein gehaltvoller wissenschaftlicher Überblick, der auch Schwächen hat, was aber kaum zu vermeiden ist. Die jeweils elf Länder- und Themenbeiträge des Bandes legen dabei nahe, dass sich die jeweiligen sozialen Bewegungen vor allem an nationalen historischen Gegebenheiten und Traditionen orientieren.
Ein Vergleich zwischen den Bewegungen Argentiniens, deren Struktur an solche in Europa erinnert, mit den indigenen Bewegungen in Peru, Bolivien, Chile oder Ecuador führt vor allem dahin, dass es große Unterschiede gibt. So ist es sinnvoll, dass die einzelnen Länder separat betrachtet werden. Ausgewiesene Experten für die jeweiligen Staaten befassen sich mit Mexiko, Kuba, Kolumbien, Venezuela, Ecuador, Peru, Bolivien, Chile, Brasilien, Argentinien und Uruguay. Die jeweils nach ähnlichem Muster angelegten Beiträge ermöglichen den Vergleich. Beispielsweise die aktuell anstehende Frage, warum in einigen Ländern die sozialen Bewegungen eine solche Kraft erreichen konnten und in anderen nicht? So lässt sich im Vergleich Boliviens mit Peru konstatieren, dass in Bolivien die ethnische Komponente der indigenen Bevölkerungsmehrheit eine starke einigende Wirkung gehabt hat – was durch die diversen Auswanderungswellen aus dem Hochaland in die Koka-Anbauregionen oder nach El Alto verstärkt wurde – während in Peru durch eine gesellschaftliche Fragmentierung vor allem lokale und regionale Interessen organisiert werden und sich keine übergeordnete Struktur wie die Bewegung zum Sozialismus MAS in Bolivien bilden konnte.
Interessante vergleichbare Phänomene wie der hohe Organisationsgrad bis in die kleinste lokale Gemeinschaft hinein, wie sie Olaf Kaltmeier für die indigenen Bewegungen konstatiert, gibt es zweifellos auch. Hier wäre ein Feld für weitere Forschungen, um sowohl die historischen Bedingungen als auch die Chancen und Grenzen dieser besonderen Form der gemeinschaftlichen Organisation genauer zu erfassen. Ein größerer regionaler Unterschied fällt bei den Gewerkschaften ins Auge. Manfred Wannöffel und Christiana Ruta fällt es sichtlich schwer, auf wenigen Seiten die Rolle der Gewerkschaften für den ganzen Kontinent zu beschreiben. Mehr als Kategorisierungen, die auf empirischer Basis gewonnen werden und leider einer grundlegenden Gewerkschaftstheorie entbehren, kommen dabei nicht heraus. Die Empirie ist es ansonsten, die diesen umfangreichen Band ergiebig macht. Zwar stört der teilweise umständliche wissenschaftliche Duktus der Beiträge den Lesefluss, aber das Buch liefert dennoch viele interessante Einblicke in ein spannendes Forschungsfeld – und viele Anregungen zum Weiterdenken.
Jürgen Mittag/Georg Ismar (Hrsg.), ¿»El pueblo unido«? Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Geschichte Lateinamerikas. Westfälisches Dampfboot, 576 Seiten, 39,90 Euro.
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