An Orkantagen wie diesen ...

Geschichten von Sturm und Eis an der Seebrücke Sellin und ihrem berühmten Fotografen

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 4 Min.
»Daisy« peitschte am vergangenen Wochenende die Wellen gegen die Seebrücke Sellin. ND-
»Daisy« peitschte am vergangenen Wochenende die Wellen gegen die Seebrücke Sellin. ND-

»Daisy« tobt mit solcher Wucht, dass einem zwar nicht das Sehen, wohl aber das Hören vergeht. Einzig das Donnern der meterhohen Wellen, die wieder und wieder gegen die Seebrücke Sellin rollen, bestimmt die Akustik am vergangenen Wochenende entlang der Ostsee. Sogar im »Photohaus Knospe«, ein paar Meter landeinwärts, beeindruckt »Daisys« Stimme noch. In dem 1903 von Otto Knospe gegründeten Geschäft wird sozusagen die Biografie der Brücke verwahrt. Ottos 1899 geborener Sohn Hans hatte sich schon als Kind Hals über Kopf in die am 2. August 1906 eingeweihte Seebrücke verliebt und sie mit der Kamera durch alle Höhen und Tiefen begleitet. Heute führt Hans' Enkel Andreas Käske den Laden.

An Orkantagen wie am vergangenen Wochenende denkt der 48-Jährige wohl besonders häufig an die Erzählungen seines Großvaters. Insbesondere an die über den 24. Februar 1924, als die Landungsbrücke innerhalb einer Stunde vom Eis zerquetscht und vom Sturm verweht wurde. Sein Großvater habe, als er das Krachen und Knirschen von der See her hörte, seine Plattenkamera geschnappt und sei losgerannt, um das Ereignis im Bild festzuhalten. Noch ahnte er nicht, welche Dramatik er für die Nachwelt festhalten würde. Am nächsten Tag war im Rügenschen Kreis- und Anzeigenblatt zu lesen: »In wenigen Minuten war die lange Seebrücke, mitsamt der schweren Befestigungen an der Spitze, aus dem Grunde herausgerissen und im bunten Durcheinander auf das Eis gehoben ... Die Reste sind von den Eismassen davongetragen und liegen etwa in der Höhe der Waldhalle zwischen Sellin und Binz.«

Während Andreas Käske von der Dramatik vor fast 84 Jahren erzählt, kracht es beunruhigend aus Richtung Brücke. »Heute ist so ein Tag, wo Großvater die Kamera schnappen würde und ganz in seinem Element wäre«, so Käske. »Mich juckt die Linse« habe er in solchen Fällen gesagt, und dann habe es für ihn kein Halten mehr gegeben Der Enkel zeigt voller Stolz Winteraufnahmen Hans Knospes aus vielen Jahrzehnten, die eine Erklärung dafür geben, warum Käske – ganz im Gegensatz zu uns – »Daisys« wütenden Auftritt ziemlich gelassen nimmt. »Früher gab es hier oft richtige Winter«, meint er angesichts der Fotos, auf denen dicke Eispanzer an Geländern, Schneeberge und eine zugefrorenen Ostsee zu sehen sind.

Hans Knospe war auch mit der Kamera dabei, als am 15. August 1925 die neue Brücke eröffnet wurde. Auch an dem Tag tobte ein Sturm, und es goss wie aus Kannen. Was den Kurdirektor Hermann Holtz aber nicht davon abhielt, die ersten Schiffspassagiere persönlich mit Blumen zu begrüßen. Als ein Jahr später das Brückenhaus durch den Anbau einer Plattform mit Musikpavillon und Lesehalle ergänzt wurde, stieg die Seebrücke zum kulturellen Zentrum Sellins auf.

1929, als die Eismassen auch die zweite Brücke zu zerquetschen drohten, rettete sie ein Sprengkommando, indem es die Eisbarrieren am Brückenkopf zertrümmerte. Selbstverständlich bannte Hans Knospe auch dieses Ereignis auf die Fotoplatte. Ebenso die Auswirkungen des eisigen Winters 1942/43, als die Retter nicht rechtzeitig kamen und Eis und Sturm zum zweiten Mal die gesamte Brücke zerstörten. Nur das Brückenhaus blieb stehen, diente bis 1971 als Tanzgaststätte, wurde dann baupolizeilich gesperrt und 1978 abgerissen.

Als im Mai 1991 der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker Sellin besuchte und natürlich Hans Knospe mit der Kamera dabei war, schenkte dieser ihm ein Foto von der alten Seebrücke. Und er verriet von Weizsäcker, dass es sein größter Wunsch sei, auch noch die Einweihung der dritten Seebrücke fotografieren zu können. Er wurde ihm erfüllt: Am 2. April 1998 wurde sie eingeweiht, ein Jahr später starb er, vier Monate vor seinem 100. Geburtstag.

Heute bewahrt Andreas Käske das riesige Fotoarchiv seines Großvaters. In seinem Geschäft in der Selliner Wilhelmstraße kann man viele Aufnahmen von Hans Knospe sehen und natürlich auch kaufen. »Wissen Sie«, erzählt Käske, »an einem Tag wie diesem hätte meinem Opa die Linse ganz gewaltig gejuckt.«

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