Lehrmeister des Gedichteschreibens

Rückblick auf eine Initiative des Dichters Ernesto Cardenal, der heute 85 Jahre alt wird

  • Erich Hackl
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Größe eines Schriftstellers erweist sich nicht nur am Gehalt seines eigenen Werks. Ebenso bedeutsam sind die Wege, die er anderen öffnet, die Richtungen, die er ihnen anzeigt, die Traditionen, auf die er sich bezieht, die er gleichzeitig bewahrt und erneuert. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang auf die Impulse hinzuweisen, die vom Dichter, Theologen und Revolutionär Ernesto Cardenal ausgegangen sind. Aber er war als Propagandist und Lehrmeister des Gedichteschreibens nur ein Glied in einer langen Kette.

Die Breite und Tiefe der nicaraguanischen Lyrik war gerade der Tatsache geschuldet, dass deren Errungenschaften weitergereicht wurden. Denn der Zufall, dass der höchste Repräsentant des spanischsprachigen Modernismus, Rubén Darío, Nicaraguaner gewesen ist, erklärt noch nicht den Aufschwung der nationalen Dichtkunst. Schon eher die Tatsache, dass Darío auf dem Gipfel seines Ruhms die jüngsten Dichter seiner Heimatstadt León gefördert hat. Dass der große, an der angelsächsischen Literatur geschulte José Coronel Urtecho 1930 den damals fünfzehnjährigen Pablo Antonio Cuadra unter seine Fittiche nahm, der bis dahin schlechte romantizierende Verse fabriziert hatte. Und dass Cardenal selbst, Carlos Martínez und Ernesto Mejía Sánchez in ihren Anfängen auf die Hilfe der Älteren – Coronel Urtecho, Cuadra, Joaquín Pasos – bauen konnten, dass sie ihrerseits Fernando Silva und Ernesto Gutiérrez zur Seite standen.

Auf diese Eigenart literarischer Verbindungen über Generationen hinweg, ohne Eifersüchtelei und Konkurrenzdenken, hat Ernesto Cardenal vor über einem Vierteljahrhundert in Palacagüina hingewiesen, einer entlegenen Ortschaft im Norden des Landes, anlässlich eines Treffens von Laiendichtern. Als Kulturminister hatte er nach dem Sieg der sandinistischen Revolution in ganz Nicaragua Dichterwerkstätten eingerichtet, mit dem dreifachen Ziel, allen Landsleuten zu ermöglichen, was bis dahin nur den Eliten vorbehalten gewesen war: schreibend sich selbst wahrzunehmen, als Subjekt, nicht als Objekt der gesellschaftlichen Veränderung; damit eine kollektive Geschichtsdarstellung, von unten und von innen, zu begründen, die eine spätere Umdeutung erschweren würde; die Tradition des exteriorismo weiterzuführen, einer mit realen Ereignissen und realen Dingen gesättigten Dichtung, so wie er sie schon vor 1977 unter den Bauern seiner christlichen Gemeinschaft, auf einer Insel im Großen See von Nicaragua, propagiert hatte.

Diese Talleres de Poesía, an denen Soldatinnen, Tagelöhner und Kleinbauern teilnahmen, auch solche, die im Zuge der Alphabetisierung eben erst Lesen und Schreiben gelernt hatten, sollten die vorhin erwähnte Kette weiterspannen. Cardenal wollte aber die Gedichte nicht erzwingen; er wollte vor allem keine schlechte Poesie jener Machart fördern, die nach dem Triumph der kubanischen Revolution vielerorts in Lateinamerika entstanden war: in der sich imperialismo auf comunismo reimte und abstrakte Termini überwogen, in der jeder gefallene Guerrillero als mártir verherrlicht wurde, mit jeder Morgenröte eine neue Hoffnung den Horizont erhellte. Er wollte keinen Optimismus um jeden Preis, er wollte die Gedichte nicht an die Kandare der Agitation nehmen. Deshalb verfasste er ein kleines, kaum eineinhalbseitiges Regelwerk, das die Errungenschaften der avancierten nicaraguanischen Lyrik mitteilte: 1. Ein Gedicht braucht sich nicht zu reimen. 2. Du musst kennen, worüber du schreibst. Und wenn du es nicht kennst, finde es heraus. 3. Konkrete Begriffe sind abstrakten vorzuziehen. Schreib also nicht »Baum«, sondern ... Usw.

Aufgrund des Krieges gegen die Contra, der die Betreuung der Laiendichter zunehmend erschwerte, schließlich infolge der Auflösung des Kulturministeriums 1987 zerfielen die Werkstätten. Das Ergebnis der Lyrikkampagne kann sich trotzdem sehen lassen. Nicht deshalb, weil durch die Hand gute, den Anlass überdauernde Gedichte entstanden wären – die waren so dünn gesät wie überall sonst. Aber die Schreibfreude jener Jahre hat einzigartige Lebenszeugnisse aus dem nicaraguanischen Alltag hervorgebracht. Dann, und bis heute, sind es wieder die profesionellen Chronisten und Propagandisten gewesen, die das Bild prägten, in dem sich das Volk erkennen soll.

Erbitterte Gegnerin des Talleres-Projekts war Rosario Murillo gewesen, die Frau des Präsidenten Daniel Ortega. Selbst Lyrikerin von zweifelhaftem Rang, hat sie in ihren Gedichten genau das verbrochen, was Cardenal vermeiden wollte: abstrakte Begriffe, abgegriffene Metaphern, rhetorische Formulierungen aneinandergereiht. Heute hat sie sich, gemeinsam mit Ortega, an die Macht gekrallt, die damals vom Volk und für das Volk erkämpft worden war. Die Talleristas sind in die Anonymität versunken, aus der sie erstanden waren. Die nicht gestorben sind, schreiben nicht mehr. Aber ihre Gedichte gibt es, dank Ernesto Cardenal, der heute 85 Jahre alt wird.

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