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Tolstois Fluchten

Ein russischer Sommer von M. Hoffman

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Leo Tolstoi provoziert bis heute. Soll man sich, wenn einen die Sinneslust zu überwältigen droht, schnell einen Finger abhacken, wie er in seiner »Kreuzersonate« anregt? Gewiss, dieser Schmerz bringt auf andere Gedanken, aber wer das mit siebzehn liest, wohnt nachher nah am Rand der Neurose.

Wer war dieser rigorose Asket, dieser Graf als Prophet des einfachen Lebens? Zu ihm pilgerten ganze Heerscharen früh von der Zivilisation Enttäuschter – und mit dieser Enttäuschung Kokettierender - wie zu einem Heiligen, auch Rainer Maria Rilke wurde vorstellig. Nachher ging auch er eine Zeit lang nur im russischen Bauernkittel umher. Aber wie das so ist, wer spät zum Büßer vor den Augen der Welt werden will, muss früh ausgiebig gesündigt haben. Von des jungen Tolstois Ausschweifungen ist dann später jedoch nur noch die Rede wie von dem Leben des Franz von Assisi, bevor er seinen göttlichen Ruf empfing und umkehrte. Die zügellose Begierde von einst wird nun zum Treibstoff militanter Askese. Die Muster des Charakters bleiben dieselben.

Man hätte einiges erwarten können von einem Film über Tolstoi, auch wenn dieser sich thematisch auf den alten Tolstoi beschränkt, der bereits zur Ikone der Tolstoianer herabgesunken ist. Eine Art Sektenführer oder Parteichef – jedenfalls kein Mensch mehr in seinem Widerspruch. Keiner, dessen Leben nur dem Schreiben untergeordnet ist, ausschließlich Werken wie »Kriegen und Frieden« dient. Ein Schriftsteller, der endlich auch einmal mit anderen zusammen die Welt verändern will, statt allein am Schreibtisch zu sitzen.

Das Projekt einer Verfilmung des Romans »Tolstois letztes Jahr« von Jay Parini geistert schon lange umher. Im Gespräch waren ganz am Anfang Anthony Quinn, dann Anthony Hopkins als Tolstoi, als seine Frau Meryl Streep. Wurde alles nichts und nun sehen wir in der Regie von Michael Hoffman Christopher Plummer als Tolstoi und Helen Mirren als seine Frau Sofia. Beide agieren bemüht ohne je zum Glutkern der je eigenen Berufung durchzudringen. Was wir sehen, ist nicht mehr als gediegene Bebilderung eines russischen Landgutlebens. All den dramatischen Lebenskonflikten Tolstois und seiner Familie, in denen sich geschichtliche Eruptionen spiegeln – hier sind es bloße Ornamente des Wohlgefallens, einer letztendlich rein folkloristischen Art, uns Tolstoi zu präsentieren.

Der junge Hermann Hesse schreibt im Jahre 1900 im »Hermann Lauscher« voll innerer Erregung über Tolstois »Auferstehung«: »Tolstoi ist von einer imponierenden seelischen Größe, er hat einmal die Stimme der Wahrheit gehört und folgt ihr nun wie ein Hund und wie ein Märtyrer, durch dick und dünn, durch Schmutz und Blut... Seine Stimme hat nicht nur die zitternde Glut des Fanatikers, sondern auch den peinlich rohen Gurgelton des östlichen Barbaren. Ich habe Sehnsucht danach, mich am nächsten warmen Tag in den hellen Frühlingswald zu legen und dort ein paar Seiten Goethe zu lesen.« Da ist viel Gift in der Wahrnehmung, aber vielleicht ein immunisierendes.

Man sieht diesen Film und ahnt die ausgesparte Dimension des Konflikts, den Tolstoi in seinem letzten Lebensjahr mit seiner Ehefrau austrug. Tolstoi und die Tolstoianer, deren oberster Intrigant Tschertkow (Paul Giamatti) den alten Mann soeben erfolgreich überredet hat, die Rechte all seiner Bücher dem »russischen Volk«, sprich der Bewegung der Tolstoianer, also ihm als deren Repräsentanten zu überschreiben – das wäre schon ein großes, ein bitteres Thema gewesen. Aber so sehen wir nur eine auf die Tolstoianer, deren Lebensreformprojekt sie nicht teilt, eifersüchtige Ehefrau, die um ihren Besitz streitet, so lange bis Tolstoi schließlich mit Hilfe seiner ihm und der Kunst im Grunde feindlichen Anhänger vom Gut flieht. An einer Bahnstation, abgeschirmt von seinen Adepten und belauert von Journalisten, stirbt er. Seine Frau wird erst zu ihm gelassen, als er sie nicht mehr erkennt. Sicher ist sicher, denken sich die Hüter des Testaments. So endet ein großer Autor – gefangen von den Geistern, die er rief.

Was für ein Stoff – und was für eine banales Breitwandfilmchen, eine Seifenoper mit anderen Mitteln, ist daraus geworden! Bedenkt man, dass wir hier im Jahre 1910 sind und die Revolution von 1905 jeden Anflug von Idylle längst zerstört hatte, ärgert das Salongeplänkel um so mehr. Man sehe sich wieder einmal Elem Klimows »Rasputin« an, dann weiß man, was »Ein russischer Sommer« nicht besitzt: Sinn für Geschichte und Sinn für das Paradox der Kunst im Abgrund der Zeit.

Regisseur Hoffman unternimmt alles, den Grundkonflikt zwischen Kunst und Weltanschauung Tolstois einerseits und zwischen Utopie und deren ideologischer Verwirklichungsabsicht andererseits, seiner schroffen Widersprüchlichkeit zu entkleiden. Alles was ein popcorntaugliches Massenprodukt von Warner Bros. an Zutaten braucht, wird hier geliefert – weichgespült und seines spezifischen Gewichts beraubt. Russisches Landleben der Oberklasse und am Ende ist alles eine Frage der Unterhaltung. Tolstoi nahm seine Kunst allerdings so ernst, dass er nicht nur bedenkenlos Finger opferte, sondern auch seinem gesamten Besitz entsagen wollte. Ob das klug und richtig war oder nicht, was so vom Weltautor übrig blieb, der sich auf Predigen verlegte – all das hätte ein interessantes Kammerspiel werden können. Kann es auch noch werden, dann aber in einem anderen Film.

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