Die Herren wollten keinen Kaffee

Friedrich Wolff über verlorene Prozesse in der DDR und der Bundesrepublik

  • Gregor Gysi
  • Lesedauer: 6 Min.

Er hat eine unerwartete Überschrift gewählt. Die meisten Anwälte berichten lieber über ihre gewonnenen Prozesse. Doch gerade die verlorenen sind oftmals viel interessanter und spannender.

Friedrich Wolff beschreibt, wie erfolglos er in bestimmten politischen Prozessen der DDR agierte. Immer dann, wenn es tatsächlich oder auch nur vermeintlich um die Machtfrage ging, entschied kein unabhängiger Richter und war der Einfluss des Rechtsanwalts auf das Urteil nahe null. Wolff verweist im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Walter Janka darauf, dass es seit Stalin in staatssozialistischen Staaten gängig war, innerparteiliche Auseinandersetzungen nicht in der Partei, sondern über die Strafjustiz zu führen. Es wird dem Leser während der Lektüre dieses Buches klar, dass diese Art von Machtmissbrauch nicht von Dauer sein konnte. Deutlich werden in Wolffs aber auch die nicht unbeachtlichen Unterschiede in politischen Prozessen der 50er und 60er sowie der 70er und 80er Jahre.

Wolff berichtet auch von Verfahren, die er als DDR-Rechtsanwalt in der Bundesrepublik und in Großbritannien erlebte: zwei Spionagefälle. In Großbritannien endete der Prozess gegen einen enttarnten DDR-Spion mit dessen Verurteilung zu zehn Jahren Haft; Günter Guillaume wurde in der Bundesrepublik zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Da Guillaume im Prozess schwieg, fragte sich Wolff, wie der Senat denn beweisen wollte, welche Informationen der Angeklagte an die Staatssicherheit der DDR geliefert haben soll. Hier verwechselt der Autor Rechtsprechung in der DDR mit jener in der Bundesrepublik Deutschland. Das zuständige Gericht ging einfach davon aus, dass sämtliche Informationen, die Guillaume besaß, von diesem auch weitergeleitet worden sind. Eine logische Überlegung des Gerichts, ein Nachweis war dazu nicht erforderlich.

Ein anderer Fall, der Wolff in die Bundesrepublik führte, betraf Frauen, die zu Freiheitsstrafen verurteilt worden sind, weil sie ihre Kinder in Ferienlagern der DDR untergebracht hatten. Auch das war Rechtsprechung im westlichen Deutschland. Das Urteil gegen jene Bundesbürgerinnen umfasste mehrere hundert Seiten. Wolff weiß, dass unverhältnismäßig umfängliche Urteile keineswegs überzeugend sein können.

Eine große Rolle nehmen in diesem Buch Prozesse nach der Wende ein. Wolff verteidigte Hans Modrow und Hermann Axen. Zu letzterem sei eine neckische Randbemerkung erlaubt: Hatte Axen in der DDR Wolff gesiezt, obwohl beide in einer Partei waren, so duzte er nach der Wende seinen Verteidiger. Egal ob es um den ehemaligen Partei- und Staatschef Erich Honecker oder den stellvertretenden Verteidigungsminister Fritz Streletz ging – verloren hat Wolff seine politischen Prozesse nach 1990 ebenso wie in der DDR. Eine Gleichsetzung ist trotzdem nicht gerechtfertigt.

Zunächst einmal stritt Wolff in der DDR für Bürger, die eine andere politische Auffassung hatten als er, einen anderen Weg gegangen sind. Im vereinten Deutschland hingegen stritt er für Menschen, die eine ähnliche politische Auffassung haben oder hatten wie er. Schon hierin liegt ein beachtlicher Unterschied. Außerdem wirkten in der DDR Machtstrukturen direkt in juristische Verfahren hinein. Die Bedingungen waren härter, die Strafen höher. Hinsichtlich der Prozesse gegen ehemalige Politiker der DDR wird es keine Notiz des Bundeskanzlers über die angeblich notwendige Höhe einer Freiheitsstrafe gegeben haben.

Zweifellos, die heutige Justiz wird von Zeitgeist dominiert. Ronald Reagan hatte seinerzeit vor dem Brandenburger Tor nicht grundlos Michail Gorbatschow aufgerufen, die Mauer zu öffnen. Er rief nicht: »Kleiber, öffnen Sie die Mauer!« Während Gorbatschow später Ehrenbürger Berlins wurde, hat das Berliner Landgericht Günter Kleiber, ehemaliges SED-Politbüromitglied, im ZK zuständig für Wirtschaftsfragen, für die Toten an der Mauer verantwortlich gemacht und zu drei Jahren Haft verurteilt. Der US-Präsident war also offenbar besser über Verantwortlichkeiten informiert als die Berliner Richter. Mit dieser Feststellung seien keinesfalls die Schüsse an der deutsch-deutschen Grenze gerechtfertigt, sondern lediglich die Notwendigkeit juristischer Akribie und Unabhängigkeit vom Zeitgeist angemahnt.

Mit gutem Recht hebt Wolff einen vielfach unbeachteten oder negierten Unterschied in der Rechtsprechung der DDR und BRD hervor. Auch wenn es viele nicht glauben mögen, das Oberste Gericht der DDR war in den 70er und 80er Jahren in der Beweisführung genauer als der Bundesgerichtshof. Eine Lücke in einer Indizienkette durfte in der DDR nicht durch richterliche Überzeugung geschlossen werden. Dieser Unterschied erklärt sich allerdings auch aus der Tatsache, dass in der DDR ein Beschuldigter nicht darüber belehrt wurde, ein Aussageverweigerungsrecht zu besitzen. Selbstverständlich war er nicht zur Aussage verpflichtet, aber er wurde nicht explizit darauf hingewiesen, diese zu verweigern. In weit mehr als 90 Prozent der Fälle lagen deshalb in der DDR Geständnisse vor. Es gab nur sehr wenige Fälle, in denen die Betroffenen von Anfang an und dauerhaft die Begehung der Tat bestritten bzw. die Aussage verweigerten. In diesen wenigen Fällen waren die Gerichte und gerade auch das Oberste Gericht sehr genau. In der Bundesrepublik gab und gibt es die Belehrung zur Aussageverweigerung. Viele Betroffene machen davon Gebrauch. Es ist also hier eher üblich, dass kein Geständnis vorliegt. Würde man die Maßstäbe aus der DDR ansetzen, müsste es eine Vielzahl von Freisprüchen geben.

Beim Lesen dieses Buches wird deutlich, wie vergrämt Wolff über die politischen Justizfälle heute ist, wie vergrämt er aber auch zu DDR-Zeiten über politische Fälle war. Die Unterschiede werden deutlich bei dem, was strafbar war oder ist, beim Recht auf Verteidigung, bei der Behandlung des Verteidigers und natürlich in der Strafzumessung sowie in der Existenz eines Verfassungsgerichts (das z. B. den Haftbefehl gegen Erich Honecker aufhob). In der DDR hat es keine Verfassungsgerichte gegeben. Nach den genannten Kriterien schneidet die bundesdeutsche Demokratie besser ab und war die DDR kein Rechtsstaat.

Beeindruckend sind die Passagen, in denen Wolff über die von ihm erlebte deutsche Einheit berichtet. Zunächst freute er sich, hat sogar die Hymne mitgesungen, war erstaunt, vom Bundespräsidenten eingeladen zu werden und glaubte mithin, willkommen zu sein. Dann aber kamen Mitglieder der Berliner Anwaltskammer zum Rechtsanwaltskollegium und holte Akten. Sie hätten eine Information erhalten, dass diese vernichtet werden sollten – ein ganz normaler Vorgang, an dem nichts politisch Brisantes war, wie sich dann herausstellte. Aber das Misstrauen saß tief, die Voreingenommenheit war riesig, die Vorurteile waren sämtlichst geprägt. Wolff und Kollegen wurden behandelt wie Kriminelle. Die Herren der Anwaltskammer wollten auch keinen Kaffee trinken, nichts. Hier nun wurde Wolff klar, dass es keine Vereinigung gegeben hat, nicht einmal einen Beitritt. Es ging ihm ähnlich wie vielen kritischen Geistern aus den früheren Eliten der DDR, die nach 1990 feststellen mussten, dass sie nicht willkommen waren, sie nicht einbezogen wurden in den Vereinigungsprozess und aus ihren Posten und Ämtern zu verschwinden hätten. Immerhin hat diese schnöde Behandlung die PDS intellektuell gestärkt, denn wo sollten die Betroffenen hin, wenn nicht in die Nähe dieser Partei.

Mit Interesse habe ich gelesen, dass Rainer Eppelmann Erich Honecker 1990 besuchte, sich ihm gegenüber menschlich verhielt und erklärte: »Wir wollen doch beide dasselbe.« Ich bin nicht sicher, ob er gerne an diesen Satz erinnert wird. Deshalb sei er hier zitiert.

Friedrich Wolff: Verlorene Prozesse. Meine Verteidigungen in politischen Verfahren 1952-2003. Verlag Edition Ost im Verlag das Neue Berlin 2009. 607 S., geb., 24,90 €.

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