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Das Unabgegoltene
DIE LINKE und ihr sozialdemokratisches, kommunistisches und linkssozialistisches Erbe
Linke und der LINKEN nahestehende Leser werden erfreut feststellen, dass die Überlieferung, mit der sie bekannt gemacht werden, sehr viel breiter und bunter ist, als sie bisher dachten – jedenfalls wenn sie aus der Schule einer Partei-Dogmatik kommen. Persönlichkeiten, die eher als Ketzer verschrien oder vergessen waren (Paul Levi, Wolfgang Abendroth, Leo Kofler u. a.), und Gruppierungen, die als Sekten galten (etwa KPO, SAPD), werden unter dem Titel »Linkssozialismus« gewürdigt. Bewusst wird in Kauf genommen, dass dieser Begriff als unscharf und sogar tautologisch kritisiert werden kann. Denn es geht eben nicht primär um Definitions-, d. h. Abgrenzungsfragen, sondern um Öffnung und Pluralität. Und der Blick ist nur insofern nach hinten gerichtet, als es für die Gegenwart und Zukunft einen Ertrag verspricht.
Es geht um die Wurzeln, die heute noch so viel Saft geben, dass der Baum wieder wachsen kann. Dabei müssen natürlich jene Wurzeln, die abgestorben sind, genannt werden, und das geschieht in einer Radikalität, die manchem Linken weh tun wird. Sie dürfte es aber Nichtlinken schwermachen, das Vorurteil weiter zu pflegen, hier werde die eigene Vergangenheit beschönigt oder verdrängt. Man lese dazu nur den ersten Aufsatz von Michael Brie!
Ausgangspunkt jedes Interesses an der Vergangenheit ist ein gegenwärtiges Problem. Worin sehen die Autoren dieses? Georg Kritidis bringt es m. E. auf den Punkt: »Das Scheitern des Parteikommunismus und der Zerfall der Sozialdemokratie haben in den letzten Jahren in zunehmendem Maße die historisch minoritären, von den Hauptströmungen der Arbeiterbewegung ausgegrenzten Strömungen ins Blickfeld der historischen Forschung geraten lassen. Die aktuellen gesellschaftlichen Probleme und offenen Fragen drängen dazu, sich dem historisch Unabgegoltenen zuzuwenden …«
Indem wir uns so der Vergangenheit zuwenden, setzen wir allerdings voraus, dass sie nicht gänzlich vergangen, erledigt, abgeschlossen ist, sondern eben »Unabgegoltenes«, Unerledigtes, unausgeschöpfte Möglichkeiten enthält. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, weil der Zugang zur Geschichte in der alten Linken oft durch einen falsch verstandenen Determinismus verbaut war. »Wenn wir annehmen, dass die Geschichte zwangsläufig so ablau-fen muss wie sie abläuft, ergibt eigentlich Geschichtsforschung per definitionem keinen Sinn mehr, weil es keine Veränderungspotenziale mehr zu entdecken gibt«, schreibt Michael Buckmiller. Diese Einsicht wird von den Autoren nun auf wichtige Stationen der Ge-schichte der Arbeiterbewegung angewandt und an ihnen bewährt.
Beginnen wir mit der Novemberrevolution. Es ist immer noch vorherrschende Meinung, sie habe vor der Alternative westliche Demokratie oder Bolschewismus gestanden. Aber schon Wolfgang Abendroth hat deutlich gemacht, dass es sich dabei um eine spätere Konstruktion handelt. »Eine Tendenz in Richtung auf Diktatur einer leninisti-schen Partei existiert in der damaligen KPD (Spartakusbund) überhaupt nicht. In Bezug auf den demokratisch-revolutionären Charakter der proletarischen Erhebung wie der eigenen Partei sind alle Gruppierungen der damaligen KPD noch durchaus einig.« Abend-roth hat damit Peter von Oertzen zu seinem theoretischen und praktischen Einsatz für eine tiefere und festere Fundierung der Demokratie in Deutschland angeregt. Denn die reale Möglichkeit dazu hat eben schon in der Rätebewegung bestanden, ist nur verpasst und vereitelt worden – mit den furchtbaren Konsequenzen, die wir kennen.
Dass die frühe KPD keineswegs an Sowjetrussland orientiert war, ist hauptsächlich durch Rosa Luxemburgs Schrift über die russische Revolution bekannt. Weniger bekannt ist die noch schärfere Kritik Paul Levis am Leninismus und sein Widerstand gegen die Politik der Komintern (siehe dazu Michael Krätke). Seine Kritik an der Mehrheits-SPD andererseits lässt sich unmittelbar auf die Gegenwart beziehen: Auf die nächste Gelegenheit zum Regierungseintritt zu schielen (»Opposition ist Mist«!) sei keine Oppositionspolitik, denn diese sei eine eigene, höchst verantwortliche Tätigkeit, nämlich Arbeit an den außerparlamentarischen Grundlagen der parlamentarischen Macht. Kann man es heute besser sagen?
Gab es nun die reale Möglichkeit, durch gemeinsames Handeln der Arbeiterparteien den Faschismus zu verhindern? In dieser viel diskutierten Frage kommt das Buch zu einer skeptischen Antwort. Zwar verfügte die KPD 1927 immer noch über ein beträchtliches Eigengewicht in der Komintern. Die Spielräume für eine Annäherung an die SPD und eine realistische Politik wurden auch genutzt. Aber seit der Durchsetzung des neuen »Linkskurses« der Komintern 1928 und der Ablösung der alten KPD-Führung 1928/29 waren die Chancen einer Verständigung minimal (Klaus Kinner/Elke Reuter). Die Volksfrontpolitik aber kam nicht nur zu spät, sie wurde gerade auf ihrem Höhepunkt 1936 durch den Beginn der Moskauer Schauprozesse diskreditiert.
»Nur für einen kurzen historischen Zeitraum gerieten die Erfordernisse und Zwänge des antifaschistischen Kampfes in Europa, die die Korrektur der irrwitzigen Sozialfaschismusthese und eine flexiblere Haltung zur parlamentarischen Demokratie erforderten, in eine vage und instabile Kongruenz mit Stalins außenpolitischen Intentionen … Die Konzepte von 1935 bewirkten aber eben keine Wende in der Politik von Komintern und KPD.« (Horst Helas/Klaus Kinner) Zu diesem Befund korrespondiert auf sozialdemokratischer Seite der Widerspruch zwischen dem Prager Manifest von 1934 und dem 1939 verfassten programmatischen Dokument »Partei der Freiheit«. Während das Manifest die SPD noch als Partei des revolutionären Sozialismus bezeichnete, eigene Fehler in der Novemberrevolution eingestand und den Faschismus als Klassenstaat charakterisierte, wurde im letzteren Dokument der Nationalsozialismus als Herrschaft einer militärisch-bürokratischen Kaste gesehen, sein Sieg auf ein Versagen der Arbeiterklasse zurückgeführt und der Kampf gegen ihn als Kampf für die »Idee der Freiheit« bezeichnet (vgl. Heinz Niemann).
Mit diesen Anpassungsprozessen an die späteren Siegermächte zeichnete sich schon vor dem Weltkrieg ab, dass es auch danach nicht zur erhofften Wiedervereini-gung der Arbeiterparteien kommen würde. Das vorliegende Buch geht dennoch auch an diesem Punkt der Frage nach, ob es da nicht versteckte oder verpasste Chancen gab. Denn bekanntlich leiden wir heute wieder unter dem Dilemma, dass keine der beiden linken Parteien allein auf absehbare Zeit in Deutschland eine Regierung wird bilden können!
Das Buch weist außerdem sowohl bei der SED als auch bei der SPD auf die Stellen hin, wo es trotz der Einbindung ins jeweilige »System« Verständigungsmöglichkeiten gab bzw. gegeben hätte. Und es macht deutlich, dass der zwischen ihnen angesiedelte Linkssozialismus trotz seiner politischen Machtlosigkeit eine innovative Rolle gespielt hat. So ist es Abendroth gewesen, der schon 1951/52 die Idee eines friedlichen Gleichgewichts der Mächte vertrat, zu dem ein neues, föderatives Europa beitragen müsse (vgl. Uli Schöler). 1954 bezog er das auf die deutsche Frage: Die Konsolidierung des Stalinismus in Ostdeutschland und der bürgerlich-restaurativen Kräfte in Westdeutschland könne nur verhindert werden, wenn Deutschland auch außenpolitisch einen Dritten Weg einschlage, der die Machtinteressen der USA und der Sowjetunion gegeneinander ausbalanciere. Weithin vergessen ist heute, dass es schon 1955 zum ersten Aufbruch einer »Neuen Linken« kam, besonders verbunden mit dem Namen des führenden Gewerkschafters Victor Agartz. Und dem entsprach in der DDR nach dem XX. Parteitag der KPdSU die Opposition um Wolfgang Harich, Walter Janka u.a. Beide scheiterten an der zugespitzten deutschen Lage zwischen den Blöcken: »Was der Harich-Janka-Prozess und die Kampagne gegen Ernst Bloch im Osten, waren im Westen das KPD-Verbot einerseits und der Landesverratsprozeß gegen Victor Agartz andrerseits.« (Christoph Jünke)
Ich breche hier meinen Eilmarsch durch die zwei Bände ab und erlaube mir noch ein paar kritische Bemerkungen. Da der Titel doch recht anspruchsvoll »DIE LINKE – Erbe und Tradition« lautet, fällt ein gravierender Mangel ins Auge: Es fehlt fast völlig die ökologische Dimension. Nun ist bei den beiden altlinken Parteien zur ökologischen Problematik in der Tat bis in die 70er Jahre hinein nicht viel zu entdecken. Das hätte aber gerade ein Grund sein müssen, die konstitutive Bedeutung, die sie für die linke Tradition hat, hervorzuheben. Sie ist ja nicht etwas, was bei Marx und Engels u. a. auch vorkommt, sondern ohne ihre Einbeziehung ist die Kritik der politi-schen Ökonomie überhaupt nicht zu verstehen. Die daran anschließende, lange Zeit fast apokryphe Tradition ist ja inzwischen auch gut erschlossen. Ich nenne nur die bekannten Namen Max Adler, Walter Benjamin, Herbert Marcuse oder Rudolf Bahro.
Es wäre eine billige Kritik, hier Dinge aufzuzählen, die in den beiden Bänden fehlen, denn die Tradition der Linken ist so reich, dass Vollständigkeit gar nicht angestrebt werden kann. Man kann also auf weitere Bände gespannt sein.
Klaus Kinner (HG.): DIE LINKE - Erbe und Tradition. Bd. 1: Kommunistische und sozialdemokratische Wurzeln, Bd. 2: Wurzeln des Linkssozialismus. Karl Dietz Verlag, Berlin 2010. Je Band 320 S., geb., jeweils 24,90 €.
Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen »Die LINKE. Erbe und Tradition« in Leipzig am 19.2. ab 17 Uhr Motitzbastei, am 20.2. ab10 Uhr Haus des Buches.
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