Grooming oder Mobbing?

Zur Seele: Erkundung mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 4 Min.
Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München
Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München

Wer einen psychologischen Grundkurs absolvieren möchte, kann in Vorlesungen gehen oder in den Zoo. Eindrücklicher als im Proseminar wird er am Pavianfelsen belehrt. Hier kann er studieren, wie Primatenmütter ihre Säuglinge zärtlich an sich drücken, aber ihre halberwachsenen Kinder energisch weiterschicken, wenn diese das Hotel Mama beanspruchen. Es wird ihm deutlich, dass Aggressionen nichts Destruktives sind, sondern Teil des Neugierverhaltens – ausprobieren, was geht, alle körperlichen Fähigkeiten üben. Er wird sehen, dass die erwachsenen Tiere die jungen nicht kontrollieren, aber energisch einschreiten, wenn es zu laut wird. Und während die Jungen raufen, gibt es bei den Alten nur ganz selten körperliche Auseinandersetzungen.

Das ist eine ganz kursorische Zusammenfassung, die zu unserer Titelfrage führen soll. Am Pavianfelsen können wir auch das bei weitem häufigste Sozialverhalten unserer Vorläufer in der Evolution beobachten. Denn die wichtigste Beschäftigung auf dem Felsen ist das Grooming, auch Komfortverhalten genannt, eine wohltuende Beschäftigung mit der Oberfläche eines Gegenübers. Grooming geht weit über Lausen hinaus, auf das es manchmal reduziert wurde. Es ist Frisieren, Rückenkratzen, Streicheln, paarweise oder in kleinen Gruppen, mal aktiv, mal passiv zum sichtlichen Genuss der Beteiligten.

Mobbing ist heute ein Modebegriff. Wir würden ihn nicht so oft benutzen, wenn er nicht etwas erfassen könnte, was die Menschen beschäftigt. Im Alltag meinen wir mit Mobbing eigentlich jedes kränkende Verhalten, jeden Versuch, uns zu vermitteln, dass wir an diesem Platz, so wie wir sind, nicht bleiben sollten und jemand anderer besser auf ihn passen, weniger stören würde. In dem Wort schwingt mit, dass wir die Opfer eines bösen und im Grunde ungerechtfertigten Angriffs sind.

In der Verhaltensforschung wird mit Mobbing die drohende, feindselige Reaktion von gruppenlebenden Tieren beschrieben. Krähen mobben die Eule oder die Katze, welche sich ihrer Nistkolonie nähert, indem sie krächzen und Droh-Angriffe fliegen. Hühner mobben das hinkende, das räudige Huhn, ähnlich wie die Kinder einer Schulklasse ihren Prügelknaben nach einem Merkmal wählen, das ihn von der Masse negativ unterscheidet – er ist besonders ungeschickt, ängstlich, hässlich usw. Zum Mobbing gehört oft das Gefühl, als Einzelner einer Übermacht ausgeliefert zu sein, was freilich durchaus subjektiv sein kann. Wer Angst verspürt, zählt jeden Feind doppelt.

Wenn einer der Konflikte des Berufslebens mit dem Begriff Mobbing angegangen wird, kann diese Begriffswahl ebenso das Problem verschleiern wie dazu beitragen, es zu klären. Wer sich gekränkt fühlt, ohne einzusehen, dass er zur Entstehung der Kränkung beiträgt, kann mit Hilfe des Mobbing-Begriffs seine Opferposition stärken. Ein Chef, der angesichts von Problemen mit einem Mitarbeiter diesen des Mobbings »nach oben« verdächtigt, kann eigene Führungsschwächen und Unklarheiten verbergen. Offener Kampf – im Arbeitsleben etwa schriftliche Abmahnung und Kündigung – spielen im Mobbing oft nur eine untergeordnete Rolle. Manchmal werden sie in einem Mobbing-Kontext in einer Weise vorgenommen, die juristisch nicht aufrechtzuerhalten ist.

Mobbing-Vorwürfe werden in Einrichtungen mit hohen ethischen Anforderungen besonders häufig erhoben – etwa unter kirchlichen Mitarbeitern oder in Pflegeteams. Wer die Entstehungsgeschichte von Mobbing-Szenen untersucht, kommt häufig zu dem Ergebnis, dass es unmöglich ist, Täter und Opfer säuberlich zu trennen. Das Opfer ist auch Täter, und umgekehrt. Ein Sozialpädagoge in einer kirchlichen Einrichtung, der einen Termin vergessen hat und den niemand daran erinnerte, beklagt sich beim Team. Eine Kollegin sagt: »Ich mag dir nicht mehr hinterherlaufen! Ich hab gesagt, nein, wir verständigen ihn diesmal nicht, er will immer ein Extra!«

Der nicht Eingeladene spontan: das sei ja Mobbing, wenn er als einziger nicht informiert werde! Ein Teammitglied, das sich schon lange über ihn ärgert, meldet diesen Vorwurf der Leitung. Diese leitet nun eine förmliche Untersuchung ein. Das Klima wird giftiger – der eine steht als jemand da, der zu Unrecht Mobbingvorwürfe erhebt, die andere als jemand, die einen Kollegen ausgrenzt.

Angesichts der zirkulierenden Vorwürfe fällt es schwer, sich auf die Ursache des Skandals zu besinnen: Schon lange hat dieses Team die Bedeutung des Grooming vergessen. Das Klima ist sachlich bis gereizt, der Erfolgsdruck hoch, der Teamleiter ehrgeizig. Er achtet erst dann auf die gespannte Atmosphäre in seiner Arbeitsgruppe, wenn die einen kommen und von ihm verlangen, dem Mitarbeiter zu kündigen, der diesen unerträglichen Vorwurf erhoben habe, es würde jemand im Team gemobbt.

Kein Wunder, möchte man meinen. Jeder Betriebswirt weiß, was Mobbing ist. Grooming? Keine Ahnung. Während auf dem Pavianfelsen die pflegende Anerkennung mit Pavianmitteln der häufigste Sozialkontakt ist, schaut es in den mit Menschenmitteln ausgerüsteten Teams oft finster aus. Dann empfiehlt der Supervisor angesichts der Mobbingvorwürfe, Kontakte zu versachlichen. Man muss nicht Freund sein, nur kooperieren. Aber geht das ganz ohne menschliches Grooming, ohne anerkennende Worte, Blicke, den freundlichen Gruß, die Frage, ob was mitgebracht werden soll vom Bäcker?

Wo Bestätigung und Kontaktpflege nicht die wichtigste soziale Aktivität sind, werden Aggressionen nicht mehr abgepuffert. Es reicht nicht, Mobbing zu unterbinden; viel wichtiger wäre es, die Gegenkräfte zu stärken.

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