Zwischen Liebe und Tod
Ballett Chemnitz: »Kaddish/Serenade« nach Bernstein-Musik
Mit diesem Abend dürfte Chemnitz eine singuläre Produktion gelungen sein: Nirgends sonst wird nach jenen zwei Kompositionen Leonard Bernsteins getanzt. Man kennt ihn als Schöpfer der »West Side Story« und weiterer Bühnenwerke; seine sinfonischen Kreationen gehören nicht zum Standard der Konzertpraxis. Wie tänzerisch auch sie ausfallen, war die Überraschung in Chemnitz und gleichsam die Motivation, zwei von ihnen zu einem Ballettabend zu verklammern.
Ursächlich sind sie einander unverwandt, die »Serenade« und Bernsteins »Kaddish« genannte 3. Sinfonie. Dennoch hat Ballettchef Lode Devos Gemeinsames in ihnen aufgespürt. Liebe und Glaube sind die Pole seines Zweiteilers.
Zu »Serenade« ließ Bernstein sich von nichts Geringerem als Platons »Symposion« anregen. In den fünf Sätzen der Musik kommen Teilnehmer jenes Gastmahls zu Wort, vom Geografen Pausanias bis zum charismatischen Politiker Alkibiades. Alle reden sie über die Liebe, der Devos gleich selbst das Wort erteilt. In Gestalt eines Eros-Paares im schlicht weißen Trikot zieht sie die Fäden im Gerangel der Paare und ist selbst vor Vorlieben nicht gefeit.
»Katxua« hat dem Choreografen dafür eine archaische Bühne gebaut, mit schräg nach hinten führendem Mittelsteg und einer schollenartigen Insel rechts; zwei kantige Flächen hängen über der Szene. Zu einem Geigenmotiv erhebt sich das Eros-Paar und demonstriert in einem Duett der Auslenkungen und Schleudern seine Macht, starr beäugt von Tänzern auf Hochsitzen. Als das Paar die Schräge erklimmt, kommt über die Menschen die Liebe, zieht sie solo und zu Paaren hinein. Nach Gutdünken fügt das Paar die Menschen. In der Suche nach der rechten Ergänzung schauen die Wölbformen manchmal wie Klagen aus, körpereng und intensiv ist der Kontakt. Auch das Eros-Paar (Anne-Frédérique Hoingne und Christian Bauch) hat seine Spannungen, rivalisiert gar, polarisiert die Geschlechter.
Nach rund 40 Minuten kehrt Ruhe ein: Er flüchtet sich zu den Frauen, sie lagert lässig auf den Männern. Das Gastmahl kann beginnen. Fünf Paare tragen die sinfonische Kreation, die in geschmeidig stetem Fluss den Streicherklang auffängt. Der Schwung des Ausdruckstanzes nicht nur in Christiane Devos' langen Kleidern, die Bildhaftigkeit Martha Grahams finden sich in Devos' modern basierter Sprache.
Kaddisch meint das Totengebet der jüdischen Religion, aber in Devos' Lesart ist »Kaddish« vielfältig deutbar. Bernsteins Komposition vereint Orchester, Chor, Knabenchor, Sprecher und Sopran (in der Aufnahme Montserrat Caballé) zu einem gewaltigen Mahnruf an die Menschheit. Ein Fels vor hellem Spalt bildet die Wohnstatt des Menschen. Unten liegt in Anbetpose das khakifarben uniformierte Volk. Mit sich allein ist oben der Mann während all der schrillen Amen-Rufe, in Todesnähe und doch voller Hoffnung. Als ihm ein Mantel wie ein himmlisches Zeichen zufällt, beginnt sich der Fels zu teilen, vor dem sich das Volk in aufgeregtem Staccato sammelt. Warm orange wie zum Aufbruch färbt sich da der Horizont. Noch macht Gedrücktsein die Menschen zu Marionetten, orientierungslos und einsam. Als der Prophet unter sie tritt, entspannt sich die Situation. Betend kann er sie für sich gewinnen, allmählich senkt sich der Frieden eines mit Gott geschlossenen Bunds über das Volk. Am Horizont scheint der Davidstern auf.
Freilich kann man das Geschehen auch weniger religiös sehen: Kampf des Menschen mit inneren Bedrängnissen. Devos entgeht der Verlockung, dem liturgischen Text eine konkrete Handlung abzuringen. In seinem sinfonischen Duktus mit oft strenger Reihenaufstellung setzt er der auflodernden Musik seine choreografische Form entgegen, kanalisiert Pathos, ohne es zu neutralisieren. Die Tänzermannschaft um Armin Frauenschuhs Propheten gibt sich ihr begeistert hin.
Nächste Vorstellung: 20.3.
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