Schwarze Odyssee am Grund der Gesellschaft
Fabrizio Gatti begab sich als Illegaler von Afrika nach Europa
Ich wollte entdecken, was auf dem Weg nach Europa schlimmer ist, als im Meer zu ertrinken. Jetzt weiß ich es. Hier in der Wüste habe ich gelernt, was es heißt, als Toter zu leben.« Das sind die Schlüsselsätze zu dem nahezu fünfhundert Seiten starken Buch eines Italieners, der sich Bilal Ibrahim el Habib nannte, weil das leicht zu merken und unter den Umständen zweckmäßig war.
Tatsächlich aber verbirgt sich dahinter Fabrizio Gatti. Ein Mann mit Herz und Verstand, ein kontaktfähiger Reporter mit Beobachtungsgabe, Durchhaltevermögen, Mut. Vor allem aber gesegnet mit akutem Spürsinn für den Gipfel der Gefahr, einem lebenserhaltenden Bis-hierher-und-nicht-weiter, das ihn mehr als einmal vor dem Schritt in den Abgrund bewahrt hat, dem Getötetwerden, dem Ertrinken, dem Ausgeliefertwerden an die Henkersknechte der Macht. Er hat die Odyssee von ungezählten Schwarzafrikanern geteilt, ist mit ihnen von Dakar an der Atlantikküste Senegals auf sträflich überladenen Lastern quer durch die Wüsten Malis und des Niger gereist bis hin zu tunesischen Küstenstädten, von wo immer wieder Flüchtlinge übers Mittelmeer nach Lampedusa oder Sizilien zu gelangen versuchen – points of no return für sie alle und oft genug Tore zum Tod. Was für ein Buch!
Gatti weiß, Abertausende von gescheiterten, gefolterten, beraubten, an den Grenzen festgehaltenen oder zurück in die Wüste verwiesenen Schwarzen – das überfordert das Vorstellungsvermögen. Er hält sich an wenige, deren Namen er nennt, denen er ein Gesicht gibt, deren Schicksale er erforscht und begreiflich macht – da sind Joseph und James, zwei Studenten, denen er dringend rät, die Überfahrt nach Lampedusa nicht zu wagen, es legal über Libyen zu versuchen, und die dann in den Würgegriff Gaddaffis geraten, der in Absprache mit Berlusconi für westliches Know-how bei der Öl- und Gasgewinnung schwarze Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer abschieben lässt. Da sind auch die Zwillingsbrüder Stephen und Daniel, die mit Gatti befreundet sind, auf dem Treck durch die Wüsten aber verloren gingen und nach denen er überall sucht, bis er nach Wochen auf einem Kamelmarkt seinen Namen rufen hört ... Stephen umarmt ihn. »Erzähl von Daniel. Was macht er?«, fragt Gatti. »Daniel is gone.« – »Daniel ist tot?« »Ja«, flüstert Stephen – und seine Beschreibung, wie der Bruder in der Wüste starb, geht ans Herz.
Wie aus einem kleinen Fenster vermittelt Gatti eine weite Sicht auf Ursachen und Wirkungen, politische Intrigen, mafiose Zustände, auf das Wuchern der Schlepper und deren Hintermänner, auf die Korruption von Soldaten, Zöllnern, Polizisten und auf die Lügen der italienischen Medien – im Fernsehen wird das Internierungslager auf Lampedusa mit einem Fünf-Sterne-Hotel am Mittelmeer verglichen. Oh ja? Man lese, wie Gatti als ein vermeintlich Gestrandeter dorthin gelangt: Fraß schlimmer als für Schweine, urinüberschwemmte Fußböden, verstopfte Toiletten; Schlagstöcke der Carabinieri gegen Wehrlose.
»Le Nouvel Observateur« sieht in Fabrizio Gatti den neuen Wallraff des Journalismus – und wirklich, die beiden sind Brüder in Geist und Tat. Dabei steht der Italiener als hervorragender Journalist beim »Corriere della Sera« und Chefreporter des »Espresso« durchaus für sich, ist ein Reporter sehr eigener Prägung und sehr eigenem Sprachgefühl. Und ein großer verlegerischer Wurf der Antje Kunstmann ist dieses Buch in endlich auch deutscher Übersetzung.
Fabrizio Gatti: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. Verlag Antje Kunstmann, München. 457 S., geb., 24,90 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.