Dankbarkeit und großes Glück
Leipziger Buchmesse: Vasile Ernu und Leslie Baruch Brent – zwei Lebenswege
Seht her und wundert euch, auch ich war Bürger der Sowjetunion!«, bekannte – in Anlehnung an Wladimir Majakowksi – Vasile Ernu, 1971 in Moskau geboren, Sohn bessarabischer Eltern. Das Land, das er 1990 verlassen hat, lässt ihn nicht los. Und er ist überzeugt, dass es jedem so geht, egal in welcher Beziehung er zur Sowjetunion gestanden habe, ob in Liebe oder Hass. »Die Sowjetunion war das größte utopische Projekt der Moderne. Ich war Zeuge eines unvollendeten Projektes und habe die Glorie und den Untergang dieser Utopie gesehen.«
Der rumänische Schriftsteller las im Forum der kleinen Sprachen aus seinem noch nicht ins Deutsche übersetzten »Born in the USSR«. Nein, Bruce Springsteen (»Born in the USA«) kopiert er nicht. Was Versile Ernu bietet, ist ein nostalgisch-ironischer Rückblick auf seine sowjetischen Jahre. Da ist zum einen Trauer über das Verschwinden des Kommunismus und der UdSSR, mit dem der Glaube an Ideale und eine besondere Art heroischen Leidens verschwunden sei. Zum anderen Dankbarkeit, etwas Einmaliges erlebt und erfahren zu haben, »eine gigantische Schöpfung«, geboren aus Blut und Schweiß, verbunden mit grandiosen Hoffnungen, großen Siegen und bitteren Niederlagen, neuem Aufbäumen und Aufbegehren – vor allem mit einem einmaligem Gemeinschaftsgefühl.
»Wir wohnten in ein und derselben Kommunalka namens UdSSR.« Der studierte Philosoph und Philologe, der sechs Sprachen spricht, wundert sich stets, wenn seine Freunde im Westen behaupten, die UdSSR habe es nicht geschafft, eine Zivilgesellschaft aufzubauen. »Die sowjetische Gesellschaft funktionierte anders, nach einem anderen Rhythmus. Unsere Zivilgesellschaft fand in der Kuch-nja und in der Otschered statt.« In der Küche und beim Schlangestehen sei über fast alles debattiert worden, über Gott (dessen Nichtexisten die Sowjetwissenschaft bewiesen hat) und die Welt (die man verbessern wollte), den Zustand der greisen Politbüromitglieder und den der Dissidenten, über die Engpässe in der Versorgung mit Konsumgütern und den Krieg in Afghanistan, was Radio Free Europe vermeldet hat und warum unsere »Koryphären Marx, Engels und Lenin nicht irren können«.
Die Kuchnja und das Otschered waren »eine Seinsform, eine Hypothese des kommunistischen Wesens«. Wer diese nicht kenne, habe keine Ahnung davon, was die Sowjetgesellschaft ausmachte und wie der Homo sovieticus tickte.
Eine andere Generation, ein anderes Land, eine andere Geschichte. Leslie Baruch Brent ist 1925 in Deutschland geboren worden, an einem Sonntag. Er ist ein Sonntagskind, hatte großes Glück im Leben. Er war deutschen Judenmördern mit einem Kindertransport nach England entkommen. Brent las aus seinen Memoiren »Ein Sonntagskind?«, die dank der Cajewitz-Stiftung und dem Berliner Wissenschaftsverlag auf deutsch erschienen ist. Der britische Immunologe, der knapp den Nobelpreis verpasst hat, beschrieb die erschütternden Abschiedsszenen auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin an jenem 1. Dezember 1938, als er und viele Gleichaltrige zum letzten Mal ihre Eltern und Geschwister umarmten und sich auf eine weite Reise ins Ungewisse begaben.
Die Fahrt durch Deutschland hat er als düster und unheimlich im Gedächtnis, nicht zuletzt wegen der die jüdischen Kinder bewachenden, finster dreinblickenden SA-Männer. Erst nach dem Passieren der holländischen Grenze seien die Kinder aufgetaut, hätten gescherzt und gelacht. Junge Holländerinnen boten ihnen Obst, Schokolade und Getränke an. Nachts seien sie mit einer Fähre durch stürmische See nach England übergesetzt, um sodann mit Doppeldeckerbussen durch eine malerische Landschaft mit den typischen Cottages zum Dovercourt Reception Camp, dem Auffanglager, zu fahren.
»So weit man glücklich sein kann ohne Familie, war ich in England glücklich«, sagte Brent, der im Krieg in der Britsh Army, bei der Infanterie, kämpfte, »weil ich dachte, dies sei das Einzige, was ich machen könne, um meinen Eltern zu helfen.« Er konnte ihnen nicht mehr helfen. Wie Brent vor einigen Jahren erfuhr, waren seine Eltern und seine Schwester von deutschen Eliminatoren im Oktober 1942 nach Riga verschleppt und gleich nach ihrer Ankunft dort ermordet worden.
Peter-Alexis Albrecht von der Cajetwitz-Stiftung las aus den letzten Briefen von Arthur und Charlotte Baruch in Berlin an ihren Sohn in England. Im letzten, drei Tage vor ihrer Deportation abgeschickten, heißt es: »Geliebter Junge! Briefe erhalten, große Freude! Wir 3 wohlauf. Wir sind froh für Dich!... Möge Gott Dich beschützen!«
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