Betrug im Zeichen der Aufklärung

Jörg Kachelmann:

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Herr K. sitzt derzeit in Untersuchungshaft. Vorgeworfen wird dem 51-jährigen Schweizer, im Februar dieses Jahres seine ehemalige Lebensgefährtin vergewaltigt zu haben. Ein entsprechendes Ermittlungsverfahren wurde mittlerweile eingeleitet. Da wegen der Schwere des Vorwurfs Fluchtgefahr besteht, hat die zuständige Staatsanwaltschaft Haftbefehl beantragt.

Fälle wie die des Herrn K. gibt es fast täglich in Deutschland. In der Regel finden sie nicht den Weg in die Schlagzeilen der Boulevardpresse, geschweige denn halten es andere Medien für angebracht, über derartige Vorgänge zu berichten. Das geschieht aus gutem Grund nicht, denn solange jemand nicht verurteilt ist, hat er als unschuldig zu gelten, und die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Haftbefehl beantragt hat, sagt über das Zutreffen des Vorwurfs noch nichts aus. Man kann noch früh genug über den Fall berichten, nämlich dann, wenn es zur Gerichtsverhandlung kommt und der Beschuldigte verurteilt wird. Über jemanden zu berichten, dem die Staatsanwaltschaft ein Sexualdelikt vorwirft, kommt einer öffentlichen Vorverurteilung gleich. Irgendetwas bleibt immer hängen, da ist sich die Volksmeinung einig.

Soweit die Theorie aus einer jenseitigen Welt, die derzeit durch die Medienlandschaft geistert, verbreitet von den Gutmenschen des Journalismus. Doch wir leben in einer anderen Welt. In dieser gibt es Herrn K. nicht, in dieser heißt der Betroffene Jörg Kachelmann, von Beruf Wettervermarkter. Für ihn gelten andere Regeln. Es sind die Regeln, denen sich jeder unweigerlich unterwirft, der sich in die Welt der Medienmenschen begibt. Jörg Kachelmann sagt nicht nur das Wetter allabendlich vor der Tagesschau und nach den Tagesthemen voraus, er moderiert Talkshows, tritt in Werbespots auf, ist also ein öffentliches Wesen.

Für öffentliche Wesen aber gelten individuelle Grundrechte nur eingeschränkt. Die Medienmeute schreibt das derzeit den Gutmenschen ins Stammbuch. Auf der Internetseite meedia.de wird zum Beispiel der ARD-Tagesschau der Vorwurf gemacht, nicht über die Anschuldigungen gegen Kachelmann berichtet zu haben. Da Jörg Kachelmann im Fernsehen auftrete, hätten die Zuschauer ein Recht zu erfahren, warum er die nächste Zeit dort nicht zu sehen sein wird. Die Gutmenschen unter uns Journalisten wenden dagegen ein, dass Medienvertreter nicht nur für das verantwortlich sind, was sie berichten, sondern auch für die Folgen ihrer Berichterstattung. Eine reichlich naive Vorstellung in einer Welt, in der zu jeder Zeit alles zur Nachricht werden kann. In der Welt der Medien gibt es keine Sphäre des Verborgenen mehr, Wahres und Unwahres bleibt auf ewig in das Gedächtnis des World Wide Web eingebrannt.

In der Kulturindustrie, schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung«, falle Aufklärung in Mythologie zurück, im öffentlichen Raum werde alles dem Fetisch der Inszenierung untergeordnet. Der Massenbetrieb der Unterhaltung kennt das Individuum nur noch als Opfer seiner selbst erzeugten rituellen Aufregungsmaschinerie. Die aber ist, um mit Adorno und Horkheimer zu sprechen, »Massenbetrug im Zeichen der Aufklärung«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.