Bolívars Erbe – Pizarros Geist

In Kolumbien kann die neue Partei AD/M-19 bei den Wahlen drittstärkste Kraft im Land werden

  • Kathrin Zeiske
  • Lesedauer: 6 Min.
Am 8. März 1990 legte die Bewegung 19. April (M-19), die legendäre kolumbianische Stadtguerilla, ihre Waffen nieder und wurde zur politischen Partei der Demokratischen Allianz (AD/M-19). Myriam Rodríguez, ehemalige Angehörige der M-19 und langjährige Lebensgefährtin des ermordeten Präsidentschaftskandidaten von M-19, Carlos Pizarro, resümiert bei einem Rundgang durch das Zentrum Bogotás die Geschichte der etwas anderen Guerilla.
Carlos Pizarro
Carlos Pizarro

»›Parasiten? Gedächtnisverlust? Keine Energie? – Bald kommt M-19!‹ haben wir als Anzeige in die Tageszeitungen gesetzt. Alle rätselten: ›Was ist das für ein Wundermittel?‹«, erzählt Myriam Rodríguez lachend. Am 17. Januar 1974 entpuppt sich die scheinbare Produktkampagne als Spaßguerilla-Konzept, als die M-19 das Schwert des Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar aus dem Staatsbesitz raubt. »Bolívar, dein Schwert kehrt in den Kampf zurück«, deklarieren sie und setzen damit die revolutionären Traditionen eines der wichtigsten Nationalsymbole Kolumbiens in den aktuellen politischen Kontext.

»Auch wenn Simón Bolívar kein Linker im orthodoxen Sinne war, sahen wir in ihm unser ideologisches Vorbild. Die Vision, ein unabhängiges vereintes Lateinamerika zu schaffen, war auch die unsere.« Myriam steht vor der Residenz Bolívars; dort, wo dem ersten Präsidenten Großkolumbiens vor einem Attentat die Flucht durchs Fenster gelang. Sie ist zierlich, wirkt trotz ihrer schweren Arbeitsschuhe mädchenhaft, und sie umgibt der Duft frischen Kaffees. Den kauft sie im ganzen Land zu gerechten Preisen von Indígena- und Frauenkollektiven und röstet ihn für den Verkauf auf einer kleinen Finca außerhalb Bogotás.

»Zunächst hatte ich in New York studiert«, erzählt sie. Es war die Zeit der Hippies und des politischen Aufbegehrens. Anfang der 70er Jahre kehrte Myriam nach Kolumbien zurück. Dort war am 19. April 1970 der Nationalen Volksallianz mit ihrem Kandidaten, dem General Gustavo Rojas, durch Wahlbetrug die Präsidentschaft verwehrt worden.

derart um die Möglichkeit einer demokratischen Einflussnahme gebracht, bildet sich in der Bevölkerung eine vielfältige Protestbewegung heraus. Myriam findet Zugang zur linken Studentenbewegung und schließt sich bald der radikalen Aktionsgruppe um Jaime Bateman an, die sich nach dem Tag der umstrittenen Wahl, dem 19. April, genannt hat.

Das Gefängnis wurde zum sozialen Raum

Dort lernt sie auch Carlos Pizarro kennen und lieben. »Carlos war ein ganz außergewöhnlicher Mensch, jemand, der einem im Gedächtnis bleibt. Er war nie auf Macht aus, aber der Ruhm gefiel ihm gut«, erinnert sich Myriam. Wie viele der M-19-Mitglieder hatte sich der Sohn aus reichem Hause zunächst den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) angeschlossen. »Doch er fand in der dogmatischen, hierarchisch organisierten Guerilla nicht das, was er suchte.« Nach vier Jahren desertiert Carlos mit dem ihm eigenen Humor: Rucksack und Waffe lässt er mit der Notiz zurück: »Bin gleich wieder da.«

Ein Jahr später gibt es die neue Guerilla. Mit atemberaubenden Aktionen gelingt es der intellektuellen Gruppe bald, große Teile der Bevölkerung für sich einzunehmen. Doch die Forderungen der Protestbewegungen erhalten durch die öffentlichkeitswirksam inszenierten Aktionen der M-19 eine dem Staat gefährlich erscheinende Dynamik. Als es der Guerilla in der Neujahrsnacht 1979 gelingt, 5000 Waffen aus der Usauquén-Kaserne in Bogotá zu entwenden, setzt eine Verhaftungswelle ein. Myriam packt Waffen und Handgranaten unter Babyflaschen und Windeln, lässt ihre beiden gemeinsamen kleinen Töchter schweren Herzens bei ihrer Mutter zurück und geht mit Carlos in den Untergrund. Aber schon im September 1979 werden sie mit weiteren Genossen im kolumbianischen Bundesstaat Santander gestellt.

»Wir kamen in das staatliche Gefängnis von Bogotá, das wir zu unserem eigenen sozialen Raum umwandelten. Zu Gerichtsverhandlungen wurden wir durch jubelnde Menschenmengen gefahren, und innerhalb der Mauern organisierten wir die Häftlinge«, erzählt Myriam. »Nur meine Töchter, die habe ich sehr vermisst.« Über der Hauptstadt zieht die Abenddämmerung herauf und lässt die kolonialen Häuser des Zentrums, an denen sie vorbeigeht, in einem unwirklichen Licht zurück. Von den Militärpolizisten, die an fast jeder Ecke mit Maschinengewehren positioniert sind, scheint niemand Notiz zu nehmen.

Die Genossen außerhalb der Gefängnismauern besetzen im Februar 1980 die Botschaft der Dominikanischen Republik. Der Konflikt erlangt so weltweite Bekanntheit. 1982 erlässt Präsident Belisario Betancur schließlich eine Amnestie, ohne die Folgen zu ahnen: Geschlossen geht die M-19 in die Berge. »In Mitgliederzahlen reichten wir nie an die FARC heran; doch im Guerillakampf nahmen wir bald eine wichtige Funktion ein«, erklärt Myriam und streicht ihre dunklen Locken zurück. »Die M-19 vermittelte zwischen den Guerillagruppen im Land und initiierte einen gemeinsamen Rat.« Carlos Pizarro schwebt sogar der Traum eines lateinamerikanischen Bataillons vor; Simón Bolívar bleibt auch in den Bergen Vorbild.

Umgebracht von Auftragskillern

Myriam Rodríguez steht jetzt am weitläufigen Bolívarplatz im Zentrum Bogotás, an dem die Regierungsgebäude eine architektonische Mischung aus Renaissance, Barock und Moderne zeigen. »Hier endete 1985 die Besetzung des Justizpalastes durch die M-19 in einem Desaster«, erzählt sie. Die Stadtguerilla war vom Stellungskrieg in den Bergen ermüdet und wollte die Regierung zum Abschluss eines Friedensvertrags bewegen. Doch Präsident Betancur fährt Panzer auf und lässt das Gebäude zu Trümmern schießen; 128 Menschen sterben, Betancur wird kurzzeitig entmachtet und der Ausnahmezustand verhängt. Heute ist der Palast wieder aufgebaut; die ausladenden modernen Betonfassaden sind hell ausgeleuchtet.

»Die Guerilla blieb nach der blutigen Niederlage in den Bergen; ich ging Ende der 80er Jahre mit meinen Töchtern nach Ecuador und begann ein neues Leben«, erinnert sich Myriam. 1990 jedoch zeichnen sich neue Friedensverhandlungen der M-19 mit der Regierung ab. Carlos Pizarro sucht nach ihr in Ecuador: »Komm zurück nach Kolumbien«, sagt er, »Wir gehen in die Legalität.« Dort war es trotz einer rapiden ökonomischen Entwicklung zu keiner Öffnung des politischen Systems gekommen; die Mehrheit der Bevölkerung blieb weiter ausgeschlossen. So erringt Carlos Pizarro große Popularität als linker Präsidentschaftskandidat. Doch am 26. April wird er mitten im Wahlkampf in einem Flugzeug von Bogotá nach Barranquilla erschossen. Fast 20 Jahre nach seinem Tod wird der Fall nun von der Justiz neu aufgerollt; seit diesem Monat zeigt darüber hinaus das Nationalmuseum eine Ausstellung seiner Tochter über ihn.

»Bis heute ist nicht geklärt, wer die Auftraggeber waren«, berichtet Myriam. »Doch auch andere in die Legalität zurückgekehrte Genossen sind ermordet worden.« Die linke Partei der Patriotischen Union hat in dieser Hochzeit staatlicher Repression in Kolumbien 1500 Menschen verloren; ihre Kandidaten Bernardo Jaramillo und Carlos Pizarro wurden von Auftragskillern umgebracht, die sogar miteinander verwandt waren. Pizarro wird wie ein Volksheld auf dem riesigen Bolívarplatz aufgebahrt. »Noch sämtliche Nebenstraßen schienen vor Menschen zu bersten; endlose Schlangen zogen an seinem Sarg vorbei«, erinnert sich seine ehemalige Partnerin.

Dennoch kann die neue Partei AD/M-19 drittstärkste Kraft im Land werden, heute sind viele der ehemaligen Guerilleros im Linksparteienbündnis des Alternativen Demokratischen Pols aktiv. Doch Myriam kann sich eine Rückkehr in die Politik nicht vorstellen. »Eine wirkliche politische Alternative seitens der parlamentarischen Linken kann ich in Kolumbien nicht erkennen, dabei wäre sie so dringend von Nöten. Die FARC hingegen hat sich als Guerilla in einem unendlichen Stellungskrieg verfangen; die Praxis der Entführungen hat sie von der Bevölkerung entfernt. In eine Revolution aber muss man sich verlieben können; daran glaube ich ganz fest.« Sagt sie und strahlt.

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