Eine Kindheit im Krieg
Ingar Brueggemann erinnert sich für ihre Familie an Bilder aus einer »an sich fürchterlichen Welt«
Es gibt Momente, die man sein Leben lang nicht vergisst. Sie haben sich eingebrannt. Da steht zum Beispiel ein kleines Mädchen auf einem Tisch und singt. Sie singt ganz allein, ohne Begleitung. Ein paar Schlager; harmlose Schnulzen, die gerade populär sind. »Liebe kleine Schaffnerin, wo fährt denn dein Wagen hin?« Solche Sachen. Sie gibt sich Mühe, das Publikum summt irgendwann, dann wird sogar zaghaft mitgesungen. Das Publikum besteht aus schwer verletzten und verstümmelten deutschen Soldaten; man schreibt das Jahr 1943. Der Vater des Kindes ist Arzt im Lazarett.
Eine Szene wie aus einem Film. Man könnte die Kontraste weich zeichnen, vielleicht Geigenklänge darunter legen, dazu ein paar verklärte Blicke. Es würde nicht stimmen. Man könnte aber auch mit der Kamera auf die Soldaten halten. Zerstörte Gesichter in Nahaufnahme, ohne Rücksicht auf empfindliche Betrachter. Würde das stimmen?
»Jetzt geht also dieser Schlamassel los«
Wer weiß. Wissen kann es eigentlich nur Ingar Brueggemann. Sie war zehn Jahre alt, als sie auf dem Tisch stand und sang. Woran erinnert sie sich? Dass sie aufgeregt war. Dass sie mit ihrem kleinen Gesangsvortrag dem Vater einen Gefallen tat. Sie wusste, dass Krieg war, aber dieser Krieg war ihr noch nicht allzu nahe gekommen. Er hatte ihr junges Leben ein paar Mal gestreift, das ja. Doch immer noch erlebte sie eine behütete Kindheit.
Ingar Brueggemann befragt ihr Gedächtnis. Geschichten aus ihrem Leben hat sie schon oft erzählt. Sie hat selbst keine Kinder, aber es gibt Neffen und Nichten, und die haben längst Töchter und Söhne. Da hatte die Tante, die in der Welt weit herum gekommen ist, einiges zu erzählen. Jetzt erzählt sie nicht ein paar Anekdoten, jetzt erzählt sie ihr Leben. Es wird ein Buch für die Familie, vor allem für die übernächste Generation, und Ingar Brueggemann will aufrichtig sein. Wie war das wirklich, eine Kindheit im Krieg? Die Frage ist schwieriger, als sie klingt.
In dem Jahr, als Ingar Brueggemann geboren wurde, kamen die Nazis an die Macht. Da passierte ihr Vater mit seiner Tretbohrmaschine im Gepäck noch regelmäßig die deutsch-niederländische Grenze. Eine Praxis im deutschen Nordhorn, dem Heimatort, eine zweite Praxis in Denekamp auf der anderen Seite – so kam der Zahnarzt Ebbers einigermaßen über die Runden. Als Ingar drei Jahre alt war, verboten die Nazis diese Form der Doppelpraxis.
Als sie sechs war, begann der Krieg. Für Ingar begann er mit dem Satz: »Jetzt geht also dieser Schlamassel los.« Das sagte ein Bekannter des Vaters, ein Mann mit einer im Ersten Weltkrieg verkrüppelten Hand, bei einem Besuch an einem der letzten Augusttage. Ingar Brueggemann weiß das noch, denn am 1. September ging der Schlamassel wirklich los. Der Vater bekam eine Offiziersuniform und musste nach Münster, zum Militärdienst im Lazarett, gleich am ersten Kriegstag.
Was weiß ein Kind von Krieg und Faschismus? Dass die Großeltern, da war sie vielleicht acht, zu ihnen zogen, weil ihr Haus in Münster zerbombt worden war. Dass Fremde, auch sie Ausgebombte, bei der Familie einquartiert wurden. Dass sie bei Fliegeralarm im Keller saßen und mit dem Großvater Doppelkopf spielten. Dass die britischen Bomber wie silberne Punkte weit oben am Himmel blinkten, vor denen man eigentlich keine Angst haben musste, denn sie wollten ja ihre zerstörerische Last nicht hier, in der Provinz, abwerfen, sondern über den Rüstungsbetrieben in den Industriezentren. Näher kam das Gefühl einer Gefährdung, als auch in der Schule die Zeit der Alarme begann.
Ingar Brueggemann will sich authentisch erinnern. Sie will die Geschichte so erzählen, wie sie sie damals erlebte. Dabei nimmt sie die Dienste der Berliner Firma Rohnstock Biografien in Anspruch, die ganz unterschiedlichen Menschen hilft, ihre Lebenserinnerungen zu verfassen. Die Spezialisten können sie bei vielem unterstützen: beim Formulieren, beim Sortieren der Erinnerungen, bei dem ganzen schwierigen Vorgang, durch den aus vielstündigem Erzählen ein Buch wird.
»Guten Tag« statt »Heil Hitler«
Nicht helfen können sie bei der Entscheidung über die Frage: Wie war es? Was hat sie damals verstanden, was erst später? Wo färbt die Erinnerung vielleicht die Bilder schön, die sie als Kind in sich aufnahm und die, wie Ingar Brueggemann später ahnte, noch später wusste, in eine »an sich fürchterliche Welt« gehörten? Und wie beschönigt die Kinderperspektive überhaupt diese fürchterliche Welt?
Da war der schon etwas ältere Herr Kohn, der ihren Garten pflegte und irgendwann nicht mehr kam. Viel später erfuhr Ingar Brueggemann, dass die Eltern und andere ihm mit Geld halfen, über die Niederlande davonzukommen. Da war das Geschwisterpaar Ernst aus der Nachbarschaft, das plötzlich nicht mehr da war. Das Mädchen Ingar hatte zufällig gesehen, wie zwei große Holzkästen aus dem Haus getragen wurden; die Großmutter erzählte ihr, die alten Leute seien sehr krank gewesen. Was Selbstmord ist, wusste sie damals noch nicht. Da waren die Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts, die eines Abends mit großen Koffern in der Wohnung standen; von da an hatte die Familie eine Menge neuer Sachen. Erst als Erwachsene verstand Ingar, dass es Juden waren – wie Herr Kohn und die Ernsts –, deren Geschäft arisiert wurde und die offiziell nicht einmal die Ware ausverkaufen durften. Es waren keine Heldentaten, die die Eltern vollbrachten, es war Hilfe im Stillen, sagt Ingar Brueggemann.
Mutter und Vater unterhielten sich nicht über Politik vor den vier Kindern. Sie waren keine Nazis – wobei Ingar Brueggemann als Kind keine Vorstellung davon hatte, was das ist: Nazis, außer vielleicht Männer in Uniformen. Die Eltern waren auch keine Widerstandskämpfer. Aber sie waren, meint sie, stur in ihrer Abneigung gegen die neue Ordnung. Die Mutter hatte »keine Zeit« für NS-Frauenversammlungen, sie wusste nicht, was sie mit dem Mutterkreuz anfangen sollte, hörte heimlich, mit dem Kopf im Schrank, Radiosender, die man eigentlich nicht hören durfte, sagte »Guten Tag« statt »Heil Hitler« und ersehnte das Ende des Krieges. Wohl vor allem aus Sorge um den Sohn, dem der Vater die längstmögliche Militärausbildung organisiert hatte, als Nachrichtenoffizier bei der Marine. Sie sollte bis Ende 1944 dauern; dann, hofften die Eltern, wäre »der ganze Spuk« vorbei.
Ein Irrtum. Der Krieg dauerte immer länger. Und er kam zurück. Ingar Brueggemanns Vater bekam das zu spüren. Sein Lazarett musste wegen Bombentreffern umziehen, er hatte alle Hände voll zu tun. Aus dem Zahnarzt wurde nach und nach ein Kieferchirurg, aus dem Kieferchirurg ein plastischer Chirurg. Manchen Verwundeten fehlte der komplette Unterkiefer; vor allem Piloten erlitten beim Absturz solche schweren Verletzungen. Manche mussten bis zu 20 Mal operiert werden, »um diese Menschen wieder menschenähnlich zu machen«, wie Ingar Brueggemann sagt.
Sie hatte keine Angst vor den Entstellten, als sie auf dem Tisch im Lazarett stand und sang. Sie erinnert sich an den Stolz darauf, dass ihr Vater diesen Menschen helfen konnte. Er hatte oft von seiner Arbeit erzählt, manchmal hatte sie solche Patienten bei Besuchen in der Klinik gesehen. So lernte sie Gesichter des Krieges kennen. Gesichter, die sie später auch auf den apokalyptischen Gemälden von Otto Dix entdeckte. Manche Männer mussten wochenlang mit einem an den Kopf gestützten Arm laufen, sitzen, schlafen, damit Hautlappen vom Arm am reparierten Gesicht anwachsen konnten. Eine Tortur, aber damals die einzige Methode, an deren Verbesserung der Vater arbeitete. Er dokumentierte die Fälle für medizinische Zwecke auf Dias.
Als im Lazarett das Morphium ausging, versuchte er, die Schmerzen der Patienten mit einer Art Hypnose zu lindern. Spiegel waren verboten; die Verstümmelten sollten nicht an ihrem eigenen Anblick leiden. Der Chirurg musste auch noch Psychologe sein. Und kam auf die Idee, ein Kind, seine Tochter, für diese zerstörten Menschen singen zu lassen, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Und sie nebenbei zu veranlassen mitzusingen und dabei ihre neu zusammengepuzzelten Gesichter zu bewegen.
Vielleicht hat es etwas mit dem Eindruck des Krieges zu tun, der ihr blieb; ganz sicher mit den bleibenden Vorbehalten und seelischen Verletzungen aus den Kriegszeiten, denen sie in ihrer internationalen Tätigkeit immer wieder begegnete – jedenfalls hatte Ingar Brueggemann in den Jahrzehnten ihrer Arbeit für die Weltgesundheitsorganisation einen Grundsatz: Don't hurt! Tu anderen nicht weh. Verhandle hart, aber verletze dein Gegenüber nicht.
Ein großes Aufatmen
Mag sein, sie hätte auch, wenn sie einer ganz anderen Generation angehören würde, zu einer solchen Haltung gefunden. Mag sein. Sie kann es weder beschwören noch bestreiten. Es ist eine Erfahrung ihres Lebens, eine Reaktion auch auf reserviertes Verhalten gegenüber den Deutschen in internationalen Gremien noch viele Jahre nach dem Krieg. Ein kluger Ratgeber hatte der jungen Frau einmal empfohlen, mit Partnern aus anderen Ländern nicht von sich aus Deutsch zu sprechen. Der Klang dieser Sprache, der Sprache der Täter, tue vielen Menschen immer noch weh, nach allem, was geschehen war. »Wenn jemand mit dir Deutsch sprechen will, wird er das schon tun. Lass es sich ereignen.« Ingar Brueggemann hat sich daran gehalten.
Ihr Kriegsende erlebte sie zu Hause. Britische Truppen nahmen am 1. April 1945 die Stadt Nordhorn ein, wo die Familie wohnte. Sie hatten den Tag voller Angst und voller Hoffnung erwartet. Niemand wusste ja, wie es dann weitergehen würde, aber »wenn die Engländer erst da sind, wird alles besser«, hatte die Mutter oft gesagt. Irgendwann wurde die Tür aufgerissen und ein englischer Soldat stand in der Wohnung. Als er den Flügel sah, stellte er sein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett beiseite, setzte sich und spielte ein paar Takte aus »Lili Marleen«, der Landserschnulze. Und Ingar, die sich hinter der Tür versteckt hatte, sang selbstvergessen mit. Wieder eine Szene wie aus einem Film. Anrührend? Kitschig? Ein, nun ja, Happy End in einer Zeit existenzieller Bedrohungen, da käme es sehr auf den Regisseur an.
Das war Ingar Brueggemanns Befreiung. Obwohl, als Befreiung wurde ihr der Moment erst im Laufe der Jahre bewusst. Als sie erwachsen war, durch die Welt reiste und mehr über die Geschichte erfuhr. Damals, im Frühjahr 1945, war es vor allem ein großes Aufatmen. Erst recht, als der Bruder unversehrt zurückkehrte. »Es war ein Geschenk«, sagt sie heute, »dass es so zu Ende ging.«
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