Kraftvoller Ruf nach Gehör

Bachfest Leipzig 2010 mit Schumann und Brahms

  • Werner Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn man unmittelbar nach dem Erleben dieses alles überragenden Gipfelwerkes der Musik, Johann Sebastian Bachs Messe h-Moll, zumal in so kongenialer Interpretation wie mit The Monteverdi Choir und The English Baroque Soloists unter Sir John Eliot Gardiner zu schreiben beginnt, kann man nur schwärmen. Gardiner, einer der einst umstrittenen wagemutigen, experimentierfreudigen Protagonisten der historischen Aufführungspraxis, kann längst die Früchte jener Pionierarbeit ernten. In den von ihm gegründeten Ensembles wirken heute Künstler der zweiten Generation, für die das anfangs Ungewohnte, ja Umstürzlerische lebendige Musizierpraxis ist. Sie folgen Gardiner auf den kleinsten Wink. Und so kann er mit ihnen den Bachschen Kosmos vom einleitenden kraftvollen Ruf nach Gehör bis zur machtvoll gesteigerten Bitte um Frieden in all seinen Wendungen vom Zärtlichen bis zum Erhabenen in den feinsten Nuancen wie in großen Steigerungen erfüllen.

Auf hohem Niveau war auch Bachs Johannes-Passion mit den Thomanern und dem Leipziger Barockorchester unter Thomaskantor Georg Christoph Biller zu erleben. Der Tradition gemäß gestaltete Biller mit seinem Chor auch das Eröffnungskonzert. Der 200. Geburtstag des gleich Mendelssohn um die Bach-Renaissance hoch verdienten Robert Schumann bestimmte das diesjährige Motto des Bachfestes »Bach – Schumann – Brahms«. So erklangen zum Auftakt zwischen Bachs Präludium und Fuge a-Moll BWV 543 und Magnificat die Fest- und Gedenksprüche von Brahms und die in Leipzig so gut wie unbekannte Messe c-Moll op. 147 von Schumann.

In diesem in der letzten Düsseldorfer Zeit geschriebenen Werk vertont Schumann den lateinischen Messetext auf ganz individuelle Weise, dabei romantisches Empfinden mit polyphoner Gestaltung verbindend. Besonders die verinnerlicht gestalteten Abschnitte beeindrucken stark. Doch fand Schumann im Gloria auch zu machtvollen Steigerungen. Insgesamt erweist sich diese Messe als ein ausdrucksstarkes, vielgestaltiges Werk mit einem an Klangfarben reichen Orchesterpart, das einen festen Platz im Musikleben verdient.

Auch das Requiem op. 148, vom Chorus Musicus Köln und Neuen Orchester unter Christoph Spering aufgeführt, verdient endlich der Vergessenheit entrissen zu werden. Schumann fand besonders im Dies irae eine ganz persönliche Lösung. Er beschwor nicht das jüngste Gericht mit seinen Schrecken, sondern fand tröstliche Töne, die auf Brahms Deutsches Requiem hindeuten.

Zum Bachfest Leipzig gehören seit zwei Jahren auch Uraufführungen von Auftragswerken. Nach Werken von Friedrich Goldmann 2008 und dem Japaner Toshio Hosokawa 2009 wurde dieses Jahr von Harrison Birtwistles »Angel Fighter« aus der Taufe gehoben. Der britische Komponist wählte für diese Komposition aus dem Alten Testament Jakobs Kampf mit dem Engel am Fluss Jabbok aus. Er schuf eine spannende dramatische Kantate für Tenor (Jeffrey Lloyd-Roberts als Jakob), Countertenor (William Towers als Engel), Chor (Rias-Kammerchor) und Instrumente (Musikfabrik), die Stefan Asbury als Dirigent zu starker Wirkung führte.

Auch das Gewandhausorchester wartete zum Bachfest unter Leitung von Riccardo Chailly mit einer Uraufführung auf, den Choralvariationen über »Vom Himmel hoch, da komm ich her« des Schweizer Komponisten Laurent Mettraux. Der schrieb sie für die Besetzung von Igor Strawinskys ebenfalls in diesem Konzert aufgeführten Variationen nach dem Orgelwerk von Johann Sebastian Bach. Mettraux schuf ein von stark gegensätzlichen Gefühlen erfülltes Werk, Diese bewegende Gegensätzlichkeit bestimmt auch das mit Michael Schönheit als Solisten außerdem aufgeführte Orgelkonzert des Schweizers.

Doch die eigentliche Entdeckung dieses Bachfestes bot die erstmalige Wiederaufführung der einzigen erhaltenen Leipziger Barockoper: »Die lybische Talestris« von Johann David Heinichen. Die Partitur befindet sich in der seit Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen geltenden, 2001 aus Kiew zurückgegebenen Musikaliensammlung der Berliner Singakademie unter dem von Carl Friedrich Zelter hinzugefügten fälschlichen Komponistennamen Talestri. Die Untersuchungen des Leipziger Musikwissenschaftlers Michael Maul erwiesen sie eindeutig als Werk Johann David Heinichens.

Das Libretto der 1709 entstandenen Oper handelt vom Aufstand der lybischen Prinzessin Talestris und ihrer Getreuen gegen die bisherige Männerherrschaft mit mancherlei für die Barockoper typischen Zufällen und Täuschungen. Doch die Musik des damals erst 26-jähirgen Komponisten erweist sich neben dem jungen Händel und den damals populären Italienern als vital und eigenständig mit mancherlei originellen kompositorischen Wendungen. Trotz der ungekürzt fünfstündigen Aufführungsdauer (gut vier Stunden Musik) im Goethe-Theater Bad Lauchstädt kam da auch dank der lebendigen Wiedergabe der Musik durch das Barockorchester und Gesangsstudenten der Fachrichtung Alte Musik unter Leitung von Susanne Scholz keine Langweile auf. Auch die auf barocker Gestik fußende, anfangs zu statuarisch wirkende szenische Gestaltung gewann zunehmend an Lebendigkeit.

Weitere Vokalkonzerte mit Orchester, so mit Philippe Herreweghe (er erhielt den Bachpreis 2010) und seinem Collegium Vocale Gent, Orchesterkonzerte, so mit den Bamberger Sinfonikern, Aufführungen in der Oper Leipzig, zahlreiche Kammermusiken und Solistenkonzerte, Motetten und Metten boten ein reiches musikalisches Programm. Dazu kamen weit über 20 Veranstaltungen mit Werkeinführungen, Gesprächen, Museumsführungen sowie zehn Exkursionen zu historischen Orgeln und in die Schumann-Geburtsstadt Zwickau – insgesamt 114 Konzerte und Veranstaltungen mit rund 65 000 Besuchern. Dennoch gibt es da noch Reserven, so in der Zusammenarbeit mit den diesmal außen vor gebliebenen Klangkörpern des MDR.

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