Was der Westen vom Autobau Ost lernte
1984 begann eine ungewöhnliche Ost-West-Kooperation in der Automobilbranche: Die DDR produzierte für den Wolfsburger VW-Konzern Motoren und erhielt im Gegenzug westliches Know-how. Ausgetüftelt haben das zwei Ingenieure aus Wolfsburg und Karl-Marx-Stadt
Die beiden Herren begrüßen sich herzlich wie alte Bekannte. Im Grunde sind sie das auch, selbst wenn sie sich zuvor fast zwei Jahrzehnte nicht mehr sahen. Sie treffen sich in Ulrich Seifferts Büro in Braunschweig, wo er heute eine Entwicklungsfirma leitet, und sofort beginnt das Plaudern über alte Zeiten. Denn einst hatten sie viel miteinander zu tun. »Es begann 1984, als das Engagement von Volkswagen in der DDR einsetzte«, erinnert sich Professor Seiffert. »Wir bereiteten den Bau eines Motorenwerkes in Karl-Marx-Stadt vor.« Der 69-Jährige war damals Vorstand für Forschung und Entwicklung in Wolfsburg und hatte, wie er schmunzelnd erzählt, »zwei absolute Ostfanatiker« im Konzern: Vorstandschef Carl H. Hahn, der selbst aus Chemnitz stammte, sowie VW-Einkaufschef Horst Münzner. Die treibende Kraft sei Münzner gewesen, verrät er: »Er wollte in der DDR einkaufen und die wiederum brauchte auch westliches Know-how für eigene Autos. So kam ihm die Idee mit dem Kompensationsgeschäft.« Sprich: Die DDR zahlte mit Motoren, die sie für VW produzierte.
War der VW-Golf eine DDR-Erfindung?
Überdies wurden die VW-Motoren in den Wartburg appliziert, später auch in den Viertakt-Trabant 1.1. »Ich habe meinen erst unlängst verkauft«, lacht Seiffert. Und anschließend habe die DDR dann ihren eigenen, bereits zusammen mit VW kreierten »Polo« bauen sollen. »Ein bildhübsches Auto«, versichert er. Was er da nicht wusste: Volkswagen war zunächst nur zweite Wahl. In Sachsen schielte man bereits kräftig nach Frankreich. »Doch die DDR-Staatsführung war auf VW fixiert«, weiß Lothar Otto. Für ihn, damals Hauptabteilungsleiter für Forschung und Entwicklung im Wissenschaftlich-Technischen Zentrum (WTZ) Automobilbau der DDR, war das unbestritten eine »glückliche Fügung«. Denn fortan taten sich ihnen Chancen auf, an moderne Ausrüstungen zu kommen.
Otto, mittlerweile im Ruhestand, weiß um das schiefe Bild, das sich dahinter schnell auftut. Denn in wenigen Bereichen waren die Unterschiede zwischen den deutschen Staaten augenfälliger als beim Kraftfahrzeugbau. So wurden die Kfz-Ingenieure der DDR »stets danach bewertet, was auf der Straße fuhr. Das tat schon weh«, räumt er ein. Dabei seien sie ja »die ersten gewesen, die den alten Trabant P 601 nach zehn Jahren in Serie loswerden wollten«, so der 70-Jährige. Er blättert in Mappen und Broschüren voller schicker Autos – gemessen am Stil der späten 1960er Jahre. Auch Fließheckmodelle sind darunter. Manches erinnert an den Golf I.
Nein, ein Golf sei das nicht, wehrt Otto ab, wohl aber der überhaupt erste Fließheckwagen jener Zeit: der Trabant 603, entworfen 1966. Der erste Golf lief bekanntlich erst 1974 vom Band. Einige jener Prototypen lassen sich heute im Zwickauer August Horch Museum bestaunen. Stets bilden sich dann Trauben um die Wagen. Und fast immer machen auch Gerüchte die Runde: »War der Golf gar eine DDR-Erfindung, die mangels Knete an den Westen verscherbelt wurde?«
Seiffert reagiert belustigt: »Das schließe ich klar aus.« Otto pflichtet ihm bei: »Es gab meines Wissens keinerlei Einfluss ostdeutscher Forschung auf Entwicklungen in der Bundesrepublik.« Dass diese dennoch bestanden, wissen beide bestens. Der Umgang zwischen den Kfz-Ingenieuren sei stets unverkrampfter gewesen als der der Politiker. »Wir fanden immer gleich dieselbe Sprache«, bestätigen sich beide gegenseitig.
Bereits Anfang der 1960er Jahre, während seines Studiums an der TU Dresden, hatte Otto erste westdeutsche Gastdozenten erlebt. »Der Hörsaal war dann rammelvoll«, erinnert er sich. Auch Seiffert hielt später Vorlesungen in Dresden – meist angebahnt auf internationalen Ingenieurkongressen. »Hier stachen unter den Kollegen aus dem Osten stets die Leute von der TU Dresden hervor«, weiß er noch. »Sie traten souverän auf, waren in den fachlichen Grundlagen sehr gut – und manche durften eben auch reisen.« So habe es ihrerseits auch Besuche in Wolfsburg und Stuttgart gegeben. »Und im Gegenzug lud man uns zu Vorträgen ein«, so Seiffert.
Was ihm bei seinen ersten DDR-Besuchen auffiel? Er muss nicht lange nachdenken: »Im Osten wurden die technischen Grundlagen meist fundierter unterrichtet.« Das habe ja auch nichts mit Politik zu tun gehabt, grient er Otto an. »Kraft gleich Masse mal Beschleunigung« gelte halt überall, ebenso die Gesetze der Fahrdynamik. Die Lehrbücher im Westen seien da zuweilen sogar älter gewesen. Er nickt mit dem Kopf seinem Gegenüber zu: »Ja, Lothar Otto war immer ein genialer Konstrukteur.« Für Seiffert auch eine Sache der Ausbildung. Das Studium im Osten wäre stärker analytisch angelegt gewesen. Später, als er selbst an der TU Braunschweig lehrte, habe er davon manches beherzigt.
Otto verweist vor allem auf die Zeit nach der Einheit. Da hätte die Absolventen aus Karl-Marx-Stadt, Dresden oder Zwickau dann »nahtlos in große Automobilunternehmen einsteigen können«. Er selbst übernahm die Leitung der Chemnitzer Niederlassung der Ingenieurgesellschaft Auto und Verkehr (IAV). Sein früherer Kollege Siegfried Bülow von den Barkas-Werken leitet heute als Chef der Porsche Leipzig GmbH die Montage von Cayenne und Panamera.
In der Forschung Weltklasse
Warum aber kam dann die DDR nie über ihre Zweitakt-Oldies hinaus? »Ja, warum?«, fragt Otto und schaut, als ob ihn noch immer Schuldgefühle plagen. Sein WTZ war eine Art Dienstleister. Man unterstützte konkrete Projekte, so bei der Entwicklung von Motoren, Getrieben und Fahrwerken. Interessante Dinge seien darunter gewesen, sinniert er. So kreierten sie Ende der 1960er Jahre eigene 4-Takt-Motoren für den Wartburg, später auch einen Getriebeautomat. »Sogar ein elektronisches Dieseleinspritzsystem – heute nennt man dies Common-Rail-System – erprobten wir bereits 1986 erfolgreich auf der Straße«, verrät er. Es wäre das erste weltweit gewesen. Doch alle Neuerungen verliefen im Sande. Stets wenn etwas die Produktionsreife erreicht hatte, kam aus Berlin das Veto: kein Geld, kein Personal für neue Taktstraßen. Der Trabi verkaufte sich schließlich weiter gut, sogar mit wachsenden Wartezeiten.
Seiffert hört zu, steht schließlich auf und holt aus einem Regal das Modell einer frühen VW-Studie. Er schmunzelt, hat Parallelen zum Westen ausgemacht. Denn als er zu VW kam, sei hier noch der Käfer das Maß aller Dinge gewesen. »Mir drohte schon der Rausschmiss, weil ich einen Käfer ohne Trittbretter darstellen ließ, um die Karosserie zu verbreitern. Sie glauben gar nicht, wie viele noch lange verteidigt haben, dass der Nachfolger des Käfer ein Heckmotorfahrzeug sein soll, möglichst luftgekühlt.« Aber gute Ingenieure seien eben nicht zu bremsen. »Und hätte VW nicht mit einem Gewaltakt die Kurve gekriegt, nämlich dem Schritt über den Polo zum Golf, sähe es hier heute anders aus«, ist er sicher. Freilich habe auch das Milliarden gekostet: total neue Fertigungseinheiten, neue Motoren, neue Getriebe, Achsen, Bremsen, Karosserien. »Im Osten experimentierte man dagegen oft schwarz weiter«, plaudert Otto. Das sei manchmal gut gegangen, so dass »positive Entwicklungen nachträglich noch abgenickt wurden«. Manchmal habe es aber auch geheißen: »Schluss! Aus! Dafür geben wir kein Geld mehr!«
Dabei wusste man im Osten schon, was da jenseits der Grenze läuft. »Wir waren stets im Bild, studierten die internationale Patentliteratur, hatten Zugang zu den westlichen Fachzeitschriften«, so Otto. »Uns interessierte sehr, was man anderswo in Sachen Getriebe oder Abgas macht.« Denn anfangs habe es ja auch Pläne gegeben, DDR-Autos im westlichen Ausland zu verkaufen. »In bescheidenem Maße gelang das zunächst, der Wartburg 311 wurde mehrfach international ausgezeichnet und 1956 bis 1965 in viele Länder exportiert«, erinnert er sich. Da habe es eigentlich noch keine Unterschiede zu den westlichen Fahrzeugen in vergleichbaren Fahrzeugklassen gegeben.
Bei VW verfolgte man hingegen nicht so intensiv, was sich im Osten tut. »Genauer schauten wir erst hin, als 1984 das neue Werk entstand«, so Seiffert. Damals hätte ihn schnell der »hohe persönlichen Einsatz der Kollegen in Sachsen, der den unseren sogar etwas voraus war«, beeindruckt. »Sie fühlten sich erkennbar motiviert, zeigen zu können, was sie drauf haben.« Otto begeisterte dagegen das Qualitätssicherungssystem bei VW: »Das gab es bei uns in dieser Struktur und mit diesem Potenzial nicht.«
Besagter Ost-Polo wurde indes nicht mehr gebaut, denn die DDR war plötzlich Geschichte. Falls es sie jedoch noch gebe, glaubt Seiffert nicht, dass sich der Rückstand weiter verringert hätte. Bei klassischen Maschinenbau- und Fahrzeugthemen wäre man wohl gut herangekommen, denkt er, nicht aber bei komplexeren Sachen wie der Elektronik. »Hätten wir noch die Teilung, bestünde wohl doch nicht so die Chance, mit Toshiba, Sanyo etc. zu kooperieren, wie wir es im Westen tun«, mutmaßt er.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.