Trautes Familienalbum

Alltagsgeschichten aus Ostdeutschland

  • Roland Müller
  • Lesedauer: 4 Min.

Konnte man bei der ersten Staffel von »Oh je, wie doch die Zeit vergeht!« (s. ND v. 6.3.2008) noch argwöhnen, dass etwa der Verlag beim Beschreiben und Bebildern des Alltags der Deutschen jene aus der DDR bewusst oder rein zufällig vergessen hatte, so legen die nun vorliegenden vier Bände »Alltagsgeschichten aus Ostdeutschland« kräftig nach.

Äußerlich sind die Bände genauso aufgemacht wie ihre vier Vorläufer, auch zeitlich stehen selbige Generationen zur Debatte, die wie schon in der ersten Folge zwischen den 20er und 50er Jahre geboren sind. Während im ersten Band, der die Geschichte von 1920 an widerspiegelt, auf Geo Kaef, dem Autor des ersten Bandes in der vorherigen Serie zurückgegriffen wurde, stammen die restlichen drei Bände diesmal von anderen Autoren, nämlich Uwe Schieferdecker, Kurt Wünsch und Sylvia Pommert.

Auch hier ist den Autoren und Gestaltern wie schon durch ihre Vorgänger eine verdienstvolle Edition gelungen – populär, aber dennoch mit historischem Tiefgang, die breiten Leserschichten als amüsante Lektüre mit manchem, zuweilen unangenehmen Widerhaken aus der Geschichte ansprechen dürfte. Überhaupt muss angemerkt werden, dass dem Verlag aus Kassel mit allen acht Bänden das Experiments eines schwierigen Spagats zwischen dem spröden Thema Geschichte und ihrer modernen zeitgemäßen Interpretation hervorragend gelungen ist.

So liebenswert und dennoch kritisch und sogar spöttisch kann man mit der eigenen Vergangenheit umgehen! Selbst Heinrich Heine, der seine Deutschen bekanntlich dafür gerügt hat, dass sie keine Gegenwart hätten und stattdessen immer in die Vergangenheit oder in die Zukunft schauten, hätte seine Freude gehabt an den schmucken bunten Büchern. Das ist im Detail so liebevoll, so kenntnisreich und zum Teil mit so viel bissigem Humor gemacht, dass einem manchmal schon die Tränen kommen können – vor Lachen. So dass man am Ende nur den Hut ziehen kann vor lauter Hochachtung – oder alle Hüte aus vier Jahrzehnten.

Und noch ein Eindruck drängt sich auf, ein ganz wesentlicher: Da im Bildmaterial hauptsächlich auf private Schnappschüsse von anonym bleibenden Fotografen, oft genial kurios und daher saukomisch, zurückgegriffen wird, wähnt man sich plötzlich im eigenen Familienalbum zu blättern.

Das ist endlich mal eine Nostalgie, die uns aufjuchzen lässt: Diese alten Zuckertüten, diese Sprüche wie »Koche mit Liebe, würze mit Bino!«, Babypuppen mit Gipsköppen, stramme Waden einer Badenixenreihe im Volltextilanzug und Gummihäubchen ... Kinder, Kinder! Und dann die nicht totzukriegenden Schulklassenaufnahmen mit dem Herrn Lehrer an der Bildseite, diese Tramper an den Autobahnen mit Schlafsack und Campingbeutel, die Jungen Pioniere mit den streng geflochtenen blonden Zöpfen wie Hänsel und Gretel, und dazwischen die dralle FDJlerin mit dem Wimpel und dem Optimismus-Lächeln zu Ehren Lenins!

O-Ton dazu gefällig? »Tausende Kilometer entfernt versieht Bernd seinen schweren Dienst bei der Fischfangflotte. Jugendtanz? Vielleicht beim nächsten Landgang. Wolfgang und Klaus liegen daheim in ihren Betten. Bis Tanz und Mädchen für sie interessant werden, gehen noch einige, wenige Jahre ins Land ... Heimlich drücken sie das kleine Kofferradio ans Ohr, aus dem leise die Stones und Dave Dee kommen.«

Eine unwiederbringliche Zeit. Aber wenn man sie schwarz auf weiß besitzt auf 480 Seiten in acht Bänden, kann man vielleicht wie Meister Goethe mit Fug und Recht ausrufen: Ich bin dabei gewesen.

Im Westen gab es den Twist, aber im Osten den Lipsi. Nie gewusst? Die hatten Freddy Quinn, wir aber Fred Frohberg. »Nun verrückt jetzt alle Möbel«, hat Heinz Quermann mal im DDR-Fernsehen ausgerufen, »denn jetzt kommt der Frank Schöbel!« – Oh je, wie schön, dass doch die Zeit vergeht!

Unsere Kindheit, unsere Jugend?... Wo sind sie geblieben? Geboren in den 30er, 40er, 50, 60er Jahren. Alltagsgeschichten aus Ostdeutschland in vier Bänden. Herkules Verlag. Hardcover, je 88 S., geb., je Band 9,90 €.

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