Und alles tat so weh

Eine Hiddensee-Erinnerung mit Nina Hagen und Kaninchen

  • Thomas Irmer
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer erinnert sich nicht an diesen Hit »Du hast den Farbfilm vergessen?«, der 1974 durch die Kofferradios tönte? Wer könnte die damals zwanzigjährige Sängerin mit ihrem schwarzen Bubihaarschnitt und blutrotem Schmollmund je vergessen – sofern man schon in den Genuss des Farbfernsehens kam? Und dann dieser merkwürdige Text: »Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee,/ Micha, mein Micha, und alles tat so weh .../ Dass die Kaninchen scheu schauten aus dem Bau,/ so laut entlud sich mein Leid ins Himmelblau.«

Ein Hiddensee-Lied also, und natürlich eine Verulkung aller Schlagersüßlichkeit. Der »Farbfilm« klebte später so an Nina Hagen, dass man ihn autobiografisch deutete. So etwas kann sich ja keiner ausgedacht haben, diesen Micha muss es doch irgendwie geben. Und tatsächlich wurde aus dem Gerücht von einem Hiddenseer Micha eine Insellegende, der noch im Jahr 2007 eine Reporterin der »Zeit« eine mehrtägige Recherche widmete. Im Winter, wenn die Einheimischen unter sich sind und vielleicht doch das eine oder andere sonst verschwiegene Wort fallen lassen. Micha, der schon das Rentenalter erreicht haben könnte, wurde nicht gefunden.

Plötzlich wechselt der Text von der schmerzhaften Erotik in den anonymen Zeugenstand oder, wenn man so will, in die Biologie: »Dass die Kaninchen scheu schauten aus dem Bau.«. Nicht durch den Draht eines dieser übereinandergestapelten Käfigkästen, nein, aus dem Bau schauten sie, die Kaninchen, im Plural, naturgemäß scheu. Aber was haben die Kaninchen in diesem Text zu suchen, der von einer Insel erzählt, die vor allem für seltene Vögel und Kreuzottern bekannt ist?

Erst Jahrzehnte nach den Kofferradios – der Bubikopf war zwischenzeitlich eine stimmgewaltige, musikprägende Punklady geworden, dann jedoch ein esoterisches Elizabeth-Taylor-Double und ich schließlich ein süchtiger Hiddensee-Urlauber – ging mir die Bedeutung dieser rätselhaften dritten Zeile auf. Aus der Erinnerung.

Fast am Kap Arkona, am nördlichen Rand des Dörfchens Putgarten, erlebte ich meine Kinderferienlagersommer der frühen siebziger Jahre. Zu den Ritualen gehörte ein Tagesausflug nach Hiddensee, der freilich für vierzig Kinder im großen Stil vorbereitet werden musste, denn auf Verköstigung durfte man dort nicht rechnen. Also wurde alles mitgeschleppt, mal vorgekocht in Thermokübeln oder als praktischer Verpflegungsbeutel im Kinderrucksack. Jede Catering-Firma würde sich heute nach diesen umsichtigen Küchenfrauen aus dem Dorf die Hände lecken. In Kloster ging’s von Bord und dann ein Stück den Dornbusch hinauf zum Picknicken.

Und dann, im Sommer 1974, sahen wir Stadtkinder etwas Unglaubliches. Es wimmelte von Kaninchen, die zu Hunderten und zum Greifen nah um uns herumhoppelten. Ja, sie waren neugierig und scheu, aber auch schnell, sehr schnell. Keinem gelang es, eins zu fangen, auch wenn wir uns, Indianern gleich, zu Jagdverbänden zusammenschlossen, um ihnen den Weg zu ihrem Bau abzuschneiden. Ein stundenlanges Spiel. Niemand hatte eine Erklärung, war doch im Vorjahr noch kein einziges Kaninchen zu sehen gewesen. Und dann waren sie, zwei Sommer später, alle wieder weg.

Zwar erinnert sich noch mancher Insulaner an diese seltsame Populationsexplosion, aber in der nicht geringen Hiddensee-Literatur ist darüber nichts zu finden, auch nicht in wissenschaftlichen Arbeiten zur Insel-Fauna. Die wilde Kaninchenvermehrung ist indes sogar ein Theorem der Mathematik, denn Leonardo Fibonacci, ein italienischer Rechenmeister der Frührenaissance, beschrieb bereits 1202 eine dann nach ihm benannte unendliche Folge von Zahlen, und zwar anhand einer Kaninchenpopulation in einem abgeschlossenen Raum. Eine Insel ist en abgeschlossener Raum.

Nina Hagen übrigens beteuert, nie auf Hiddensee gewesen zu sein. Somit sind nur die Kaninchen authentische Figuren in diesem Ohrwurm vom Strand von Hiddensee.

»Du hast den Farbfilm vergessen« wurde übrigens nie gecovert, jedenfalls nicht in einer prominenten, künstlerisch bedeutenden Neuinterpretation, allenfalls wurde es irgendwo mal nachgesungen. Was für einen Popsong dieser Art ein noch höheres Adelsprädikat ist als die Vermehrung in neuen Versionen. Darauf einen Sanddornschnaps.

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