Tödliches Tabu

Die Armenier-Frage

  • Kai Agthe
  • Lesedauer: 2 Min.

Wer in der Türkei offen ausspricht, dass man 1915/16 einen Völkermord an den Armeniern begangen hat, dem nach vorsichtigen Schätzungen von Historikern zwischen 600 000 und 800 000 Menschen zum Opfer gefallen war, läuft – nach Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches – noch immer Gefahr, »wegen Verunglimpfung der türkischen Nation« strafrechtlich belangt zu werden. Einige türkische Journalisten und Schriftsteller wie Orhan Pamuk und Eli Shafak haben dies am eigenem Leibe erfahren müssen.

Sibylle Thelen will nach eigenem Bekunden mit ihrem Essay »Die Armenierfrage in der Türkei« »nicht anklagen, schon gar nicht verurteilen«. Sie richtet sich explizit an »meine deutschen, türkischen, armenischen, kurdischen Leser«. Die Autorin, die Turkologie studierte und als Journalistin bei der »Stuttgarter Zeitung« tätig ist, weiß, dass die Beschäftigung mit diesem Teil der türkischen Geschichte Fingerspitzengefühl erfordert. Obwohl sich die Diskussion in den letzten Jahren versachlicht hat, kann die Erinnerung an die Massenvertreibung und -vernichtung der Armenier lebensgefährlich sein. Thelen erinnert an den Journalisten Hrant Dink, der für seinen Versuch, das Tabu zu brechen, von einem aufgehetzten Siebzehnjährigen am 19. Januar 2007 auf offener Straße ermordet worden ist.

Bezüglich des Genozids an den Armeniern schreibt Sibylle Thelen: »Einen offiziellen Vernichtungs- oder gar Tötungsbefehl hat bisher kein Historiker nachweisen können.« Das aber ist nicht ungewöhnlich, hat es doch auch später in Nazi-Deutschland keinen schriftlich fixierten Befehl zur industriellen Tötung der europäischen Juden gegeben. Daraus resultiert eine weitere Frage: Ist der Massenmord an den Armeniern mit der Vernichtung jüdischen Lebens durch die Nazis zu vergleichen? Sibylle Thelen zitiert den Historiker Hans-Lukas Kieser: »Es war noch keine ›Industrie‹ wie Auschwitz, wohl aber eine durchorganisierte ›Manufaktur des Todes‹.«

Auch in der Bundesrepublik war es ein langer Weg, bis man sich zu den Verbrechen der Nazi-Diktatur bekannte. Insofern ist Sibylle Thelen optimistisch: Denn: »Eine Türkei, die sich nicht unter dem Schatten ihrer Geschichte wegduckt und den selbstauferlegten Zwang zur Verdrängung abschüttelt, würde ihren politischen Spielraum erweitern.« Und das nicht allein mit Blick auf den von der Türkei angestrebten Beitritt in die Europäische Union.

Sibylle Thelen: Die Armenierfrage in der Türkei. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 92 S., br., 9,90 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.