Die wirkliche Liebe

Iris Hanika fragt nach dem »Eigentlichen«

  • Kai Agthe
  • Lesedauer: 3 Min.

Was ist das, das Eigentliche? Das fragen sich die beiden Protagonisten des Romans. Da ist Hans Frambach, der im Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung arbeitet. Das ist keine Erfindung Kafkas, sondern eine fiktive Holocaust-Forschungsstelle in Berlin. Frambach ist für die Erschließung der Nachlässe von NS-Opfern zuständig. Weil die Arbeit aber zum »Shoah-Business« geworden ist, fühlt er sich höchst unwohl. Jeden Tag »im Weinberg des Gedenkens« tätig zu sein, bleibt für seine Psyche nicht folgenlos. »Am schwersten haben es natürlich die, auf deren Schultern die ganze Welt lastet.« Frambach ist ein Christophorus der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es gibt Tage, da denkt er beim Aufstehen als erstes an Auschwitz. Warum nur? »Nur die Unverbesserlichen leiden noch darunter«, weiß die Erzählerin. In diesem Sinn ist Frambach unverbesserlich. Es bedeutet für ihn auch einen täglichen Kraftakt, sich gegen seine schnippische Sekretärin und seinen Vorgesetzten zu behaupten, der mal aus grauem Fleisch, mal aus grauem Stein gemacht zu sein scheint.

Frambach ist, so sieht er es selbst, das Unglück in Person. Und ein Neurotiker ist er auch: Wie er sich gegenüber Dritten verhält, das hängt davon ab, ob sich die Buchstaben des jeweiligen Namens durch drei teilen lassen. Dass die Gedanken an die industrielle Vernichtung von Menschen ihn in depressive Abgründe ziehen, hängt auch mit seiner Einsamkeit zusammen: »Das Alleinsein fraß so lange schon an ihm, vielleicht hatte es ihn jetzt schon aufgefressen.«

Graziela ist die beste Freundin von Hans. Auch sie ist auf der Suche nach dem Eigentlichen. Sie hat mit einem verheirateten Mann eine Affäre. Zwar trennt sie sich zwischenzeitlich von Joachim, weil das Geschlechtliche dann doch nicht das Eigentliche sei, kehrt dann aber doch wieder zu ihm zurück. Die wichtigste Bezugsperson für sie ist und bleibt aber Frambach. Auch für ihn ist Graziela ein Rettungsanker, ja »die goldene Insel im Meer des Grauens«.

Das Buch ist in kurze Abschnitte eingeteilt, die meist mehrere Druckseiten, bisweilen aber auch nur wenige Zeilen umfassen. Variierte literarische Zitate fließen ebenso ein wie in Klammern gesetzte Literaturhinweise, die dem Roman einen quasi essayistischen Charakter verleihen. Nach Frambachs Erinnerungsbericht eines Besuchs in Auschwitz folgen drei leere Seiten. Später folgen gar noch weitere drei unbedruckte Seiten als »Raum für Notizen«. Von der Form her ist dieses Werk so spröde wie seine beiden Hauptfiguren. Aber Hanikas Roman ist ein gelungenes Stück Literatur, das Antwort sucht auf eine alte Frage.

Was das Eigentliche ist, das mag banal, pathetisch oder antiquiert klingen: Für Graziela wäre es die wirkliche Liebe – und für Frambach auch. »Eine Liebe«, so die Erzählerin, »war ihm nicht gelungen, aber immerhin diese Freundschaft mit Graziela«. Könnte sich Graziela von Joachim lösen, der sie nicht wirklich begehrt, und Hans etwas von seinem Unglück abwerfen, sie würden gut zueinander passen. Frambach trifft den Nagel auf den Kopf, als er in einer heiteren Minute zu Graziela sagt: »Wir wären ein perfektes Ehepaar, wir sollten heiraten.« Mein Gott, das würde man den beiden wünschen! Denn das könnte es sein: das Eigentliche.

Iris Hanika: Das Eigentliche. Roman. Literaturverlag Droschl. 175 S., geb., 19 € .

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