Das Abenteuer Leben

So viele Träume und so wenig Zeit: Zum Tode von Christoph Schlingensief, der mehr sein wollte als Provokateur

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 7 Min.

Jetzt, nachdem er zu atmen aufgehört hat, mag es scheinen, als sei er sein ganzes Leben lang vor diesem Moment auf der Flucht gewesen. Schon lange bevor er von seiner Krebserkrankung wusste, so stellt man sich vor, habe er alles gefürchtet, was wie Stillstand aussah, und dem eine Aktivität entgegengesetzt, die von den einen mit Bewunderung, von den anderen mit Kopfschütteln betrachtet wurde.

Jetzt, da Christoph Schlingensief gestorben ist, steht sein Leben allen Mutmaßungen offen. Aber mit dieser Offenheit wird es bald vorbei sein, er wird zur Ikone werden – vielleicht als »einer der größten Künstler, der je gelebt hat« (Elfriede Jelinek). Wer ihn ablehnte, vermag das nun nicht mehr. Wem er gleichgültig war, der ist belehrt. Krebstod mit 49 und Arbeit bis zuletzt – das sind starke Argumente.

Wenn von Christoph Schlingensief die Rede ist, der am 24. Oktober 1960 in Oberhausen als Sohn eines Apothekers und einer Kinderkrankenschwester geboren wurde, wird gern erwähnt, dass er in seiner Jugendzeit Ministrant war. Da wird wohl an eine gewisse Strenge in seinem Umfeld gedacht, die Sehnsucht nach einem wilden Leben weckte. Aber diese Sehnsucht hatten viele in der Pubertät. Christoph Schlingensief hat sie nie abgelegt, bis zuletzt ist sie ihm eine Kraftquelle geblieben.

Der süße, fein gekämmte Knabe – im Internet kann man Bilder sehen – stellte sich immer bewusster gegen jegliche Angepasstheit. Schon früh soll er im Keller seines Elternhauses »Kulturabende« veranstaltet haben, wo zum Beispiel der junge Helge Schneider auftrat, der sein Freund blieb. Mit heiligem Ernst ist er schon als Zehnjähriger losgerast, um mit seiner Doppel-8-Kamera die Welt zu inszenieren und zu erforschen. Da muss es auch Zuspruch gegeben, muss er erfahren haben, dass man für Kunst belohnt werden kann. Ab 1981 studierte er in München Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte, versuchte sich nebenbei als Musiker. 1983, mit 23, drehte er seinen ersten Spielfilm: »Tunguska – Die Kisten sind da«.

Ein Hochtalentierter, der im bürgerlichen Kulturbetrieb auch schnell sein Auskommen fand. Er bekam Lehraufträge, war von 1986 bis 1987 – man mag es heute kaum glauben – der erste Aufnahmeleiter der Fernsehserie »Lindenstraße«. 1988 produzierte er das ZDF-Fernsehspiel »Schafe in Wales«. Aber er wäre nicht zu solcher Berühmtheit gelangt, hätte er sich nicht – just als es mit der deutschen Grenze vorbei war – zur rabiaten künstlerischen Grenzüberschreitung entschlossen.

Seine »Deutschlandtrilogie« mit den Spielfilmen »100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker« (1989), »Das deutsche Kettensägenmassaker« (1990), und »Terror 2000« (1992) machte ihn zur Berühmtheit. Einer, der sich gegen die Political Correctness verging, was andere auch gern getan hätten, aber nicht wagten: Da zeigte er, während noch die Bilder vom Freudentaumel nach der Maueröffnung über die Bildschirme flackerten, wie eine bayrische Metzgerfamilie in Blutrausch fiel und alle Ostdeutschen niedermetzelte, denen sie habhaft werden konnte. Die deutsche Einheit als bluttriefender, kannibalistischer Akt der Einverleibung des Ostens durch den Westen. Schockierend!

Wie viele große Künstler verfügte Christoph Schlingensief über jene besondere Intuition, die Dinge aus der Distanz in ihren Zusammenhängen wahrzunehmen, Verborgenes erspüren zu können – ohne Illusion. Und natürlich erkannte er früh jene Mechanismen, die den Kunst- mit dem Medienbetrieb verbinden. Grob gesagt: Aufmerksamkeit braucht den Skandal. Da passte er in Castorffs Volksbühne, wo er Stücke wie »100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen« und »Rocky Dutschke« inszenierte, wobei er auch Laien und Behinderte einsetzte. 1997 wurde er während einer Kunstaktion auf der »documenta« in Kassel von der Polizei festgenommen, weil er ein Schild mit dem Text »Tötet Helmut Kohl« verwendete. Im Schattenkabinett der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands (APPD) zur Bundestagswahl 1998 war Schlingensief als Bundesminister für »Rückverdummung« vorgesehen, was ihn nicht daran hinderte, mit einer eigenen Partei in den Wahlkampf zu ziehen. »Chance 2000« hatte zum Ziel, »die Politik kunstvoll und die Kunst politisch zu machen«. Unter dem Motto »Wähle dich selbst« sollten einerseits Wege zur Direktkandidatur für den Bundestag aufgezeigt werden sollten. Vor allem aber ging es Schlingensief um das Selbstbewusstsein derjenigen, die schon jeglichen Gedanken an politische Teilhabe aufgegeben hatten.

Von Anfang an stand er für die Entrechteten, die Unterdrückten, Ausgegrenzten. Dies war sein politisches Credo, das mancher über all dem Klamauk vielleicht nicht ernst genommen hat. Er mag das gewusst haben: Der Name Schlingensief lässt sich in verschiedener Intonation aussprechen. Um mit seinen Aktionen Wirkung zu erzielen, durfte es nicht sein, dass darin ein Ton des Abwinkens zu hören war.

Jetzt, nach diesem Todestag, mag man sagen, der Mann sei wie eine Kerze gewesen, die von zwei Seiten brannte. Aber nein, damit können wir uns nicht beruhigen über den Krebs, der auch in Gesunden als Angstgegner steckt.

Christoph Schlingensief selbst hat natürlich unablässig darüber nachgedacht, seit er Anfang 2008 von der Diagnose Lungenkrebs erfuhr. War das wirklich Zufall, gab es nicht doch einen Grund? »Viele Leute, die krank werden, haben sich in ihrem Lebenshaushalt etwas geleistet, was ihnen nicht gutgetan hat«, sagte er im November 2008 in einem Interview mit der TAZ. »Das größte Problem ist der Kopf, die durchimmunisierte Gesellschaft, wie es Sloterdijk genannt hat. Diese Köpfe, die sich mit allem schon zurechtgefunden haben. Tief drin ist da eine Störung, der Mensch weiß, dass er nicht alles aushält. Jeder muss für sich rausfinden, wo seine Moral ist, wo er sagt, das und das mache ich nicht mit.«

Nicht gut getan, bekannte Schlingensief in einem anderen Gespräch, habe ihm Bayreuth, wo er bei den Wagner-Festspielen 2004 mit »Parsifal« sein spektakuläres Debüt als Opernregisseur gab. Damit hatte ein »Enfant terrible« der Kunstszene die höheren Weihen erhalten. Dass ihn die Todesnähe des Stoffes damals stark angegriffen habe, bemerkte er im Nachhinein. Auch sei Bayreuth »kein Ort der Liebe, sondern des Größenwahns und des Hasses« gewesen.

Er war dünnhäutig, wie es gar nicht so selten ist bei dermaßen charismatischen Menschen. Von Anfang an trennte er seine Kunst nicht von seiner Person. Da konnte man einerseits von Selbstinszenierung reden, andererseits geschah alles mit vollem Einsatz. Was ihn innerlich bewegte, kehrte er nach außen. Und es wirkte auf ihn zurück, dessen wurde er sich zunehmend bewusst.

Die letzten Jahre seines Lebens waren bestimmt von einem Traum: In Afrika wollte er ein Festspielhaus gründen. Schließlich fand er in Burkina Faso den Ort für sein »Operndorf«. Dort sollte es nicht nur eine Bühne geben, sondern auch eine Krankenstation, einen Park, einen Kindergarten. Es sollte ein Ort sein, wo zu lernen ist, »was wir nicht mehr können, was wir für die Zukunft brauchen«.

Lernen – nachdem ihm schon ein Lungenflügel herausoperiert worden war und er eine Chemotherapie hinter sich hatte. Kunstwerk war nicht länger nur das, was er schuf. Kunstwerk wurde, wie er es tat, wurde er selbst. Mit der Inszenierung »Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir« in einer Duisburger Industriehalle ging er sich selbst ans Existenzielle. Unter dem Titel »So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein!« veröffentlichte er ein Tagebuch seiner Erkrankung. Er nahm sich als Zeugen und setzte Zeichen. Dabei hatte er auch Praktisches im Blick. Zum Beispiel wollte er mit dem Netzwerk »Geschockte Patienten – Wege zur Autonomie« Erkrankte in der ersten Zeit nach ihrer Diagnose unterstützen. Er hat dem Tod getrotzt auf eine Weise, die uns staunen macht, mischte sich ein, reiste, heiratete Aino Laberenz, die Frau, mit der er schon lange in Liebe verbunden war. Das Abenteuer Leben hat er bis zur letzten Sekunde auskosten wollen.

Am Samstag, als er starb, stand ursprünglich die Premiere seines Stückes »S.M.A.S.H. – In Hilfe ersticken« auf dem Spielplan der Ruhrtriennale. Er musste sie absagen vor wenigen Wochen, denn es gebe »ein paar harte Neuigkeiten« – zehn Metastasen im noch verbliebenen Lungenflügel.

Ein »Provokationsprofi«? Jetzt kann ihn niemand mehr so nennen. Ich wollte ihn noch einmal sehen und fand im Netz ein Video jenes Interviews, das er am 22. Januar 2010 dem ZDF gegeben hat. Wie nachdenklich, ernsthaft er sprach, wie berückend er lächelte. Was für ein offenes Gesicht. Leuchtend. So sieht ein Unentwegter aus, der sich mit Sinnlosigkeit nicht abfindet. Der Sinn schaffen will – für andere und damit auch für sich selbst.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.