Mit Jesus in die Champions League
Die 41. Passionsspiele in Oberammergau sind ein Spektakel für die Sinne – und Theaterkunst der Spitzenklasse
Widerstand hat einen Namen in Oberammergau: Christian Stückl. Deutschlands schärfstes Nichtraucherschutzgesetz, das seit Anfang dieses Monats in Bayern gilt, schert den 48-Jährigen offenbar wenig. Genießerisch an der Zigarette ziehend, wartet der notorische Kettenraucher an der Bühne des Passionsspielhauses, bis alle Platz genommen haben, die sich von Stückls Vortrag auf das ein paar Stunden später beginnende Ereignis einstimmen lassen wollen. Dieses Jahr gehen die Passionsspiele zum 41. Mal über die Bühne.
Widerstand musste Christian Stückl, der wie sämtliche Mitwirkenden in Oberammergau lebt, auch leisten, nachdem er 1986 zum Passionsspielleiter gewählt worden war. Denn seine Maxime teilten (und teilen) durchaus nicht alle in dem 5000-Seelen-Ort inmitten der Ammergauer Alpen: »Lebendig bleibt eine Tradition nur, wenn man ständig daran arbeitet.«
Nach 1990 und 2000 hat der renommierte Regisseur (der zurzeit auch in Salzburg mit »Jedermann« reüssiert) nun zum dritten Mal das Spektakel von Leiden, Tod und Auferstehung in einer Weise inszeniert, dank der das oberbayerische Dorf in die Champions League des Theaters aufstieg.
Widerstand zeigten aber auch die Oberammergauer gegen Versuchungen, das nach dem Pestgelübde von 1633 alle zehn Jahre aufgeführte Bühnenstück medial zu vermarkten. Die erste Aufführung war 1634, 1680 verlegte man das Spiel auf die Zehnerjahre. Weder Film- noch Fernsehrechte wurden bislang verkauft. Wer Oberammergauer Passion erleben will, muss nach Oberammergau kommen. Was Anfang Oktober bis zu einer halben Million (etwa 4700 an jedem Spieltag) getan und damit nicht nur Interesse am 2000 Jahre alten Stoff gezeigt haben werden, sondern auch reichlich Ausdauer. Denn die gut fünf Stunden Spielzeit (unterbrochen durch eine knapp dreistündige Pause) beginnen am frühen Nachmittag mit Jesu Einzug in Jerusalem und enden am späten Abend mit der Auferstehung des Gekreuzigten. Noch vor zehn Jahren wurde traditionell vom Vormittag bis zum Abend gespielt und Stückls Zeitverschiebung musste extra per Referendum abgesegnet werden. Die Effekte nächtlicher Lagerfeuer, des illuminierten Ölbergs oder der blitzumtosten Kreuzigung zeigen, dass damit Reserven der imposanten Freiluftbühne (in dieser Saison erstmals mit verschiebbarem Plexiglasdach) erschlossen wurden.
Die Zuschauer erleben Theater in Cinemascope. Und als Triptychon, dessen Teile unablässig ineinanderfließen und auseinander hervorgehen: links das Haus des Prokurators, rechts das Haus des Hohenpriesters, im Zentrum gleichsam eine Bühne auf der Bühne, die »Lebende Bilder« aus dem Alten Testament und Schauplätze in Jerusalem präsentiert – flankiert von Durchgängen, die für das Auf- und Abtauchen von Volk, Soldaten, Jüngern, Priestern und anderen der über 2200 Akteure sorgen. Perfekt choreografierte Massenszenen mit Hunderten Mitwirkenden assoziieren eher modernstes Hollywoodkino als frommes Krippenspiel. Die von Stefan Hageneier (auch Bühnenbild) entworfenen Kostüme wirken unaufdringlich zeitlos und zugleich authentisch. Auch über 40 Tiere – wie Stückl versichert, unter strikter Beachtung des Tierschutzes – sind dabei, von Tauben über Ziege und Schaf bis zu Pferd und Kamel.
Orchester, Chor, Solosängerinnen und -sänger gliedern und begleiten die Teile des Passionsspiels. Herausgelöst ergäben diese glanzvollen Darbietungen ein veritables Oratorium mit der Musik von Rochus Dedler (1779-1822), die Markus Zwink für 2010 neu revidiert und erweitert hat.
Doch künstlerische Brillanz allein hätte kaum ausgereicht, das Dorf am Fuße des Kofel zu dem Kulturort zu erheben, den es heute nahezu unumstritten darstellt. Passion in Oberammergau hatte immer auch eine politische Dimension. Denn Leiden und Tod Christi, das verkündet das Neue Testament unmissverständlich, gehen auf das Konto der Juden. Entstanden doch die vier Evangelien in einer Zeit, als deren Verfasser größte Sorgfalt darauf verwandten, die inzwischen in Palästina fest etablierte römische Besatzungsmacht in gutes Licht zu setzen, und als das sich entwickelnde Christentum vehement die Abtrennung von seinen jüdischen Wurzeln betrieb. Dieser Antijudaismus prägte die im Mittelalter zahllos aufkommenden Passionsspiele, in deren Gefolge es nicht selten Pogrome gab. Hitler äußerte sich nach seinem Oberammergau-Besuch 1934 zum 300-Jahre-Jubiläumsspiel beeindruckt, wie dort »die jüdische Gefahr am Beispiel des antiken römischen Weltreichs so plastisch veranschaulicht« worden sei.
Reformversuche, dieses fatale Erbe zu überwinden, scheiterten auch nach dem Krieg jahrzehntelang am Trotz der Traditionalisten. Das Schnitzerdorf geriet in den Ruf einer Gemarkung Gestriger. Jüdische Organisationen riefen zum Boykott der Passionsspiele auf. Das beinharte Beharren auf dem Überkommenen schlug sich nicht nur im ramponierten Renommee, sondern auch in künstlerischer Stagnation nieder. Dass ausgerechnet der seinerzeit mit 24 Jahren zum bislang jüngsten Spielleiter gewählte Christian Stückl eine Umkehr aus dieser Sackgasse einleitete, erinnert an einen Romantitel von Luis Trenker – »Das Wunder von Oberammergau«. Es war vor allem harte Arbeit, künstlerische und Überzeugungsarbeit, die den ständigen Dialog – mit jüdischen Vereinigungen, Beteiligten und Betroffenen – ganz vorn sah.
Das Ergebnis ist ein Kompromiss. Denn auch ein Christian Stückl (der zusammen mit seinem Dramaturgen Otto Huber die Textfassung von Joseph Alois Daisenberger aus dem Jahr 1860 bearbeitete und erweiterte) kann die Evangelien nicht umschreiben. Aber es ist dreierlei zu vermerken.
Erstens: Das römische Besatzungsregime in Palästina ist durchgängig und überzeugend präsent. Deutlich wird, dass Jesus wegen seines Anspruchs auf den Titel des »Königs der Juden« für die imperiale Gewaltherrschaft ein gefährlicher Aufrührer ist, der die labile Ordnung zwischen Okkupanten und jüdischen Kollaborateuren bedroht (virtuos in der Rolle des dämonischen Hohenpriesters Annas: Peter Stückl*). Deshalb lässt der römische Statthalter Jesus auf römische Weise hinrichten.
Die Revision gängiger Klischees repräsentiert nicht zuletzt Judas, dessen revolutionäre Ungeduld die Priesterkollaborateure ausnutzen, um seines Meisters habhaft zu werden. Der ungewollte, doch unleugbare Verrat und die Verzweiflung darüber machen Judas zu der wohl differenziertesten Figur, deren herausragende Verkörperung durch Carsten Lück* zu den Höhepunkten des Spiels zählt.
Zweitens: Gezeigt wird, dass Jesus ein Jude war, der unter Juden mit Juden für Juden wirkte. Seine Gegner waren nicht »die« Juden, sondern die mit den Besatzern kollaborierenden Teile der jüdischen Oberschicht sowie die Besatzer selbst. Das symbolisieren Szenen wie Jesus im Tempel mit der Thorarolle oder das Abendmahl mit hebräischem Gebet und Menora.
Drittens: Stückl hat »versucht, Jesus von dieser Leidensgestalt wegzubringen«, wie er im ND-Interview sagte (ND vom 15. Mai 2010). Das ist ihm im Rahmen des in der Passionsgeschichte Möglichen gelungen. Die Einbindung der Bergpredigt in die Debatten mit Anhängern und Gegnern nach dem Einzug in Jerusalem verweist auf Jesu Strategie, Feindseligkeiten mit Vergebung und gar Liebe zu begegnen. Dass in einem solchen Pazifismus revolutionäres Potenzial steckt, zeigt die Verfolgung des sich als Messias ausgebenden Wanderpredigers. Dennoch gerät Jesus nicht zum Aufrührer, zum Insurgenten wider die gar nicht so friedliche Pax Romana. »Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.« Dieser Satz ist paradigmatisch für die Figur des Nazareners, die in Frederik Mayet* einen kongenialen Darsteller gefunden hat, der die Überwindung physischer Zerbrechlichkeit durch geistiges Widerstehen glaubhaft macht.
»Schauspielerisches Talent haben sie kein Quäntchen«, vermerkte Lion Feuchtwanger, nachdem er 1910 die Passionsspiele Oberammergau besucht hatte. Wer will, kann sich 100 Jahre später vom Gegenteil dieses Diktums überzeugen. Noch bis zum 3. Oktober.
*Alle Hauptrollen sind gleichberechtigt doppelt besetzt. Der Rezensent, der lediglich eine Aufführung sah, kann also nur einseitig urteilen, möchte aber gleichwohl bei herausragenden Darstellungen nicht darauf verzichten.
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