Ausbürgerung ist kein Weg zur Integration
Jugendliche werden jetzt zur Entscheidung gezwungen / Verbände fordern den Doppelpass
Selma und Maria-José haben Eltern, die vor vielen Jahrzehnten nach Deutschland eingewandert sind. Selmas aus der Türkei, Maria-Josés Mutter aus Chile. Beide Mädchen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen und haben zwei Staatsbürgerschaften. Doch nur Selma muss sich entscheiden, wenn sie 18 wird. Kurz nach ihrem Geburtstag bekommt sie ein behördliches Schreiben, das sie fragt, ob sie ihre türkische oder die deutsche Staatsbürgerschaft weiterführen wolle. Keine einfache Entscheidung ...
Die Optionspflicht drängt viele junge Menschen aus der deutschen Staatsangehörigkeit heraus, kritisiert Marei Pelzer von Pro Asyl. Gemeinsam mit dem Deutschen Anwaltsverein und dem Interkulturellen Rat forderte sie am Montag die Abschaffung des Optionszwangs. Dieser führe zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung von »Optionskindern« und zu einem vollkommen überflüssigen Verwaltungsaufwand, kritisieren die Verbände.
Seit dem Jahr 2000 erhalten in Deutschland geborene Kinder automatisch neben der Staatsangehörigkeit der Eltern auch die deutsche. Sie sind allerdings nur Deutsche auf Widerruf. Werden sie 18, müssen sie sich für eine von beiden entscheiden. Auf Antrag erhielten auch die seit 1990 in Deutschland geborenen Kinder nicht-deutscher Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit zugesprochen. Das waren 50 000 Kinder, von denen die ersten nun volljährig sind, so dass der Optionszwang zur Anwendung kommt.
Einige Kinder müssen sich entscheiden, andere aber nicht. Sie können ihre doppelte Staatsangehörigkeit behalten, müssen das aber trotzdem extra beantragen. Anderenfalls laufen sie Gefahr, die deutsche zu verlieren, obwohl sie ihnen zustünde. Kinder, deren Eltern aus einem EU-Land stammen, dürfen die alte behalten, auch Menschen aus Iran oder Marokko – weil diese Länder niemanden aus der Staatsangehörigkeit entlassen.
Die Verbände führen viele Gründe an, die alte Forderung nach einer generellen Tolerierung der doppelten Staatsbürgerschaft wieder aufleben zu lassen: Die jetzt geltenden Regelungen sind kompliziert. Sie sind nicht für alle Gleichaltrigen mit ausländischen Eltern gleich. Doch vor allem wird den Jugendlichen eine Art Votum gegen das Misstrauen der deutschen Gesellschaft abverlangt. Dieses »Misstrauensvotum« schadet der Integration, meint Victor Pfaff vom Anwaltverein. Junge Deutsche fühlten sich unerwünscht, mit dem Verdacht konfrontiert, nicht loyal zu sein. Beide Pässe zu behalten, habe dagegen meist nicht mehr als symbolischen Wert, nämlich mit dem Land der Eltern verbunden zu bleiben. Mit dem Optionszwang werde hingegen der positive Effekt von Staatsbürgerschaft und Integration aufs Spiel gesetzt. Die Ungleichbehandlung kann man auch in Landesfarben kleiden: Am meisten betroffen vom Optionszwang sind Kinder aus türkischen oder serbischen Familien. Die Verbände stellen die einfache Frage: »Wem tut die doppelte Staatsangehörigkeit weh«? In Deutschland leben rund 4,5 Millionen Menschen mit mehr als einer Staatsbürgerschaft, ohne dass der Staat damit das geringste Problem habe.
Im Herbst wird sich der Bundestag mit den Anträgen von Grünen und SPD zur Streichung des Optionszwangs aus dem Gesetz beschäftigen. Die Vertreter beider Parteien verweisen auf Nachfrage darauf, dass sie ihr Ziel einer Tolerierung der doppelten Staatsangehörigkeit in rot-grüner Regierungszeit nicht durchsetzen konnten, weil dem eine konservative Mehrheit im Bundesrat entgegenstand. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag eine Überprüfung vorgesehen. Einen Zeitplan dafür gibt es aber nicht. Die Verbände drängen jedoch zur Eile. 2012 läuft die Frist für die ersten Betroffenen ab, die 2008 ihre Bescheide bekamen. Ab dann könnte es so kommen, dass die Bundesrepublik deutsche Staatsbürger verliert, ohne dass sich die Einwohnerzahl verändert: »Wir bürgern dann aus«, so Torsten Jäger vom Interkulturellen Rat.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!