Wiedergeschenktes Leben

Kriegsgefangenschaft – Erinnerungen deutscher Soldaten

  • Jens Ebert
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer Kriegsgefangenschaft verhindern will, muss Kriege verhindern.« Unbestreitbar. Das ist die Botschaft des neuen Buches von Elke Scherstjanoi. Die Berliner Historikerin hat erneut einen spannenden, umfangreichen Materialband vorlegt, der sich einem zentralen, bis in die Gegenwart in Deutschland widersprüchlich diskutiertem Thema des 20. Jahrhunderts widmet: den Wehrmachtssoldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.

Insbesondere in der westdeutschen Wirtschaftswunder-Gesellschaft war das Thema Kriegsgefangene in der Sowjetunion »beliebt«: Schaurige Erzählungen von den deutschen »Opfern« in Stalins Lagern bildeten ein Kontrastprogramm zur eigenen behaglichen, die NS-Vergangenheit verdrängenden Wirklichkeit. In der DDR war das Thema, wie so oft, ambivalent. Das Überlaufen zur Roten Armee (grundsätzlich nicht Desertion genannt) und die Tätigkeit des NKFD wurden zwar in der Geschichtsschreibung gern betont, doch über den Alltag in den Lagern und die Lebensverhältnisse erfuhr man nur wenig, schon gar nichts Kritisches.

Der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Band vereint Interviews mit und Texte von 47 Wehrmachtsangehörigen der letzten sogenannten Kriegsgeneration (geboren 1918 bis 1928), die aus einem seit dem Jahr 2000 laufenden Oral History Projekt hervorgingen. In der fundierten Einleitung problematisiert die Herausgeberin selbst die Repräsentativität der Geschichten, zudem diese z. T. erst 65 Jahre nach den Ereignissen fixiert wurden, also von zahlreichen späteren Erfahrungen überlagert sind.

Ein seriöser Sammelband kann und will nie den Anspruch erheben, über den Krieg zu berichten, »wie er wirklich war«. Dies bedenkend geben die hier versammelten Erinnerungen einen überaus direkten und lohnenden Zugang zu den Tagen der Gefangennahme im Osten, auf die die Texte fokussiert sind. Der heutige Leser kann teilhaben an »Grenzerlebnissen, Erlebnissen also, die an die äußerste Grenze dessen gingen, was mit gewohnten zivilen Verhaltensweisen steuerbar ist«.

In der Tat war die Gefangennahme für viele Wehrmachtsangehörige eine so existenzielle Erfahrung, dass sie oftmals zu einem Umdenken führte, wie z. B. bei Rolf Brandt: »Einmal fragte mich ein sowjetischer Leutnant: ›So weit marschiert, bis zum Kaukasus. Sag, was wolltest du dort?‹ Heute weiß ich, das Nachdenken darüber hat mein Denken und mein Handeln grundlegend geändert.«

Überraschend und erfreulich ist, wie spannend hier zuweilen erzählt, wie lebendig die Dramatik dieser lang zurückliegenden Tage beschrieben wird. »Das dominante Empfinden war Angst.« Die NS-Propaganda vom Russen, der keine Gefangenen macht, hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Doch nach der Angst kam das Erstaunen, das ungläubige Registrieren nicht erwarteter Handlungsweisen des Feindes. Dass man seine Uhren loswurde, hatte man erwartet (allerdings nicht von den Amerikanern, die einen danach auch noch an die Russen übergaben, wie mehrere Soldaten berichten), Willkür und dass man verprügelt wurde auch, aber kaum, dass man heimlich Brot zugesteckt bekam, von einer Ärztin mit viel Engagement geheilt und ausgerechnet von einem Asiaten sehr menschlich behandelt wurde.

Auch mit dem hartnäckigen Mythos, Adenauer hätte 1955 mit Geschick und Zähigkeit die letzten Kriegsgefangenen, die noch unschuldig in der UdSSR inhaftiert waren, freigekämpft, wird in der Einleitung aufgeräumt. Die Rückführung der Kriegsgefangenen war 1950 weitgehend abgeschlossen, von den verbliebenen 30 000 als Kriegsverbrecher Verurteilten (darunter auch eine deutliche Minderheit Unschuldiger) waren 20 000 bis 1953 ebenfalls entlassen worden. Auch die restlichen Inhaftierten wären ohne den antisowjetischen Konfrontationskurs Adenauers bereits viel früher in der Heimat gewesen.

Elke Scherstjanoi betont, dass der besondere Wert des Sammelbandes nicht in der Beschreibung neuer Fakten oder Erkenntnisse liege, sondern im diskursgeschichtlichen Vergleich. So konstatiert sie eine deutliche Verschiebung in Richtung der Deutung der Gefangennahme »als wiedergeschenktes Leben« im Vergleich mit früheren, ähnlich gelagerten Texteditionen.

Eines führt der Band dem Leser ganz eindringlich vor Augen: dass selbst die schlechteste und brutalste Behandlung deutscher Kriegsgefangener in der UdSSR in Einzelfällen unvergleichbar ist mit der systematisch auf Vernichtung ausgerichteten Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener in Deutschland. Angesichts aktueller Diskussionen zum geplanten »Zentrum für Vertreibung« bleibt zu hoffen, dass das von Scherstjanoi festgestellte »Abklingen von Interpretationen im Geiste des Kalten Krieges« sich fortsetzt, ebenso wie die Bereitschaft, »das eigene Unglück in Relation zu den Leiden anderer Völker zu setzen«.

Elke Scherstjanoi (Hg.): Wege in die Kriegsgefangenschaft. Erinnerungen und Erfahrungen deutscher Soldaten. Karl Dietz Verlag, Berlin., 304 S., br., 19,90 €.

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