Man sieht die Fahnen ...
Tag der deutschen Sprache: ein unmögliches Interview mit dem Schriftsteller Mark Twain
Mr. Twain, Sie haben Generationen von Kindern »Tom Sawyer« und »Huckleberry Finn« geschenkt. Dafür wurden und werden Sie geliebt, auch von mir. Man hat diese Romane in viele Sprachen übersetzt, und ich darf Ihnen versichern: Auch im Deutschen haben Ihre Texte nichts von ihrer Poesie eingebüßt. Was also haben Sie gegen die deutsche Sprache?
Wer nie Deutsch gelernt hat, macht sich keinen Begriff, wie verwirrend diese Sprache ist. Es gibt ganz gewiss keine andere Sprache, die so unordentlich und systemlos daherkommt und dermaßen jedem Zugriff entschlüpft.
Na, na! Wir Deutsche sind immerhin als äußerst ordentlich bekannt.
Wenn man glaubt, man habe endlich eine Regel zu fassen bekommen, die im tosenden Aufruhr der zehn Wortarten festen Boden zum Verschnaufen verspricht, blättert man um und liest: »Der Lernende merke sich die folgenden Ausnahmen.« Man überfliegt die Liste und stellt fest, dass es mehr Ausnahmen als Beispiele für diese Regel gibt.
Finden Sie, zehn Wortarten seien zu viel? Ich kann mir nicht vorstellen, wie man ohne Adjektive, Adverbien, Artikel, Konjunktionen, Partizipien, Präpositionen, Pronomen, Substantive, Verben oder Zahladjektive auskommen sollte!
Zehn Wortarten, und alle zehn machen Ärger. Ein durchschnittlicher Satz in einer deutschen Zeitung ist eine erhabene, eindrucksvolle Kuriosität; er nimmt ein Viertel einer Spalte ein; er enthält sämtliche zehn Wortarten – nicht in ordentlicher Reihenfolge, sondern durcheinander; er besteht hauptsächlich aus zusammengesetzten Wörtern, die der Verfasser an Ort und Stelle gebildet hat, sodass sie in keinem Wörterbuch zu finden sind – sechs oder sieben Wörter zu einem zusammengepackt, und zwar ohne Gelenk und Naht, das heißt: ohne Bindestriche; er behandelt vierzehn oder fünfzehn verschiedene Themen, von denen jedes in seine eigene Parenthese eingeschlossen ist, und jeweils drei oder vier dieser Parenthesen werden hier und dort durch eine zusätzliche Parenthese abermals eingeschlossen, sodass Pferche innerhalb von Pferchen entstehen; schließlich werden alle diese Parenthesen und Überparenthesen in einer Hauptparenthese zusammengefasst, die in der ersten Zeile des majestätischen Satzes anfängt und in der Mitte seiner letzten Zeile aufhört – und danach kommt das Verb, und man erfährt zum ersten Mal, wovon die ganze Zeit die Rede war ...
Sie beherrschen das doch ganz prima. Und Sie zeigen, dass sich so ein deutscher Satz bestens zu einem Rundumschlag eignet. Aber werden wir konkret: Ich wüsste gern, was Sie beispielsweise den deutschen Adjektiven vorwerfen. Was haben Ihnen diese Wörter, die doch Menschen, Gegenständen, Handlungen, der Natur Eigenschaften zuweisen und gerade Ihnen als Schriftsteller lieb sein sollten, getan?
Hier haben wir einen Fall, in dem Einfachheit ein Vorzug gewesen wäre, und nur aus diesem und aus keinem anderen Grund hat der Erfinder das Adjektiv so kompliziert gestaltet, wie es eben ging. Wenn wir in unserer eigenen aufgeklärten Sprache von unserem »good friend« oder unseren »good friends« sprechen wollen, bleiben wir bei der einen Form, und es gibt deswegen keinen Ärger und kein böses Blut. Im Deutschen jedoch ist das anders. Wenn einem Deutschen ein Adjektiv in die Finger fällt, dekliniert und dekliniert und dekliniert er es, bis aller gesunde Menschenverstand herausdekliniert ist. Es ist so schlimm wie im Lateinischen. Er sagt zum Beispiel:
Singular
Nominativ: Mein guter Freund (my good friend)
Genitiv: Meines guten Freundes (of my good friend)
Dativ: Meinem guten Freunde (to my good friend)
Akkusativ: Meinen guten Freund (my good friend)
Plural
N.: Meine guten Freunde (my good friends)
G.: Meiner guten Freunde (of my good friends)
D.: Meinen guten Freunden (to my good friends)
A.: Meine guten Freunde (my good friends)
Vielleicht sollte man in Deutschland lieber auf Freunde verzichten, als sich all diese Mühe mit ihnen zu machen.
Den Substantiven stehen Sie etwas freundlicher gegenüber. Immerhin heben Sie lobend hervor, dass diese großgeschrieben werden, woran man sie denn auch erkennen könne. Wirklich gnädig indes stimmt Sie auch das nicht.
Jedes Substantiv hat sein grammatisches Geschlecht, und die Verteilung ist ohne Sinn und Methode. Man muss daher bei jedem Substantiv das Geschlecht eigens mitlernen. Eine Frau ist zwar im Deutschen infolge eines Versehens des Erfinders der Sprache weiblich; ein Weib jedoch ist es zu seinem Pech nicht. Ein Weib hat hier kein Geschlecht, es ist ein Neutrum; laut Grammatik ist also ein Fisch »er«, seine Schuppen »sie«, ein Fischweib aber keins von beiden. Ein Weib geschlechtslos zu nennen darf wohl als eine hinter dem Sachverhalt zurückbleibende Beschreibung gelten. Schlimm genug – aber übergroße Genauigkeit ist sicherlich noch schlimmer. Ein Deutscher nennt einen Bewohner Englands einen »Engländer«. Zur Änderung des Geschlechts fügt er ein »-in« an und bezeichnet die weibliche Einwohnerin desselben Landes als »Engländerin«. Damit scheint sie ausreichend beschrieben, aber für einen Deutschen ist das noch nicht exakt genug, also stellt er dem Wort den Artikel voran, der anzeigt, dass das nun folgende Geschöpf weiblich ist, und schreibt: »die Engländerin« (was soviel heißt wie »the she-Englishwoman«). Meiner Ansicht nach ist diese Person überbezeichnet.
Sie nennen uns Deutsche zwar unordentlich. Aber gründlich – eine andere Eigenschaft, die man uns zuschreibt – sind wir eben doch.
Manche deutsche Wörter sind so lang, dass man sie nur aus der Ferne ganz sehen kann. Man betrachte die folgenden Beispiele: Freundschaftsbezeigungen, Dilettantenaufdringlichkeiten, Stadtver- ordnetenversammlungen. Dies sind keine Wörter, es sind Umzüge sämtlicher Buchstaben des Alphabets. Und sie kommen nicht etwa selten vor. Wo man auch immer eine deutsche Zeitung aufschlägt, kann man sie majestätisch über die Seite marschieren sehen – und wer die nötige Phantasie besitzt, sieht auch die Fahnen und hört die Musik. Sie geben selbst dem sanftesten Thema etwas schauererregend Martialisches.
Wie es scheint, wollen Sie kein gutes Haar an der deutschen Sprache lassen. Nehmen Sie es mir nicht übel, Mr. Twain, aber Sie sind dabei, meine Liebe zu Ihnen zu verspielen.
Moment! Nachdem ich nun ausführlich auf die verschiedenen Untugenden dieser Sprache hingewiesen habe, komme ich zu der kurzen und angenehmen Aufgabe, ihre Tugenden hervorzuheben. Die Großschreibung der Substantive habe ich bereits erwähnt. Aber weit größer noch als dieser Vorzug ist ein anderer: dass die Wörter so geschrieben werden, wie sie klingen. Nach einer kurzen Unterweisung im Alphabet weiß der Lernende, wie jedes deutsche Wort ausgesprochen wird, ohne nachfragen zu müssen. Ganz anders in unserer Sprache: Wenn ein Lernender sich bei uns erkundigt, wie man das Wort »bow« ausspricht, müssen wir ihm antworten: »Das kann man so, wenn es für sich allein steht, nicht sagen; dazu muss man den Zusammenhang berücksichtigen und die Bedeutung ermitteln – handelt es sich um ein Ding zum Abschießen von Pfeilen oder um ein Neigen des Kopfes oder um das vordere Ende eines Bootes?«
Mehr davon, reden Sie weiter!
Einige deutsche Wörter sind von einzigartiger Ausdruckskraft. Zum Beispiel jene, die das einfache, stille und zärtliche häusliche Leben beschreiben; sodann die, die mit der Liebe in all ihren Arten und Formen zu tun haben, von bloßer Güte und Wohlwollen gegenüber dem durchreisenden Fremden bis hin zum Liebeswerben; aber auch die Wörter, die von den zartesten und liebreizendsten Dingen draußen in der Natur künden – von Wiesen und Wäldern und Vögeln und Blumen, vom Duft und Sonnenschein des Sommers und vom Mondschein in stillen Winternächten; mit einem Wort: alle jene, die von Ruhe, Rast und Frieden handeln; auch jene, die sich auf die Wesen und Wunder des Märchenlandes beziehen. Letztlich und hauptsächlich ist die Sprache unübertrefflich reich und ausdrucksvoll bei allen Wörtern, die Gefühl ausdrücken. Es gibt deutsche Lieder, die selbst den, dem die Sprache fremd ist, zum Weinen bringen können. Darin zeigt sich, dass der Klang der Wörter richtig ist – er gibt die Bedeutung mit Wahrhaftigkeit und Genauigkeit wieder; und so wird das Ohr angesprochen und durch das Ohr das Herz.
Man hört, Sie seien bereit, die deutsche Sprache zu reformieren.
Ich habe Vorschläge, die ich machen kann und auch machen werde, falls meine geplante Bewerbung dazu führt, dass ich von der Regierung offiziell angestellt werde, an der Reform der Sprache zu arbeiten.
Und wenn die Regierung Sie nicht dazu einlädt?
Aufgrund meiner philologischen Studien bin ich überzeugt, dass ein begabter Mensch Englisch (außer Schreibung und Aussprache) in dreißig Stunden, Französisch in dreißig Tagen und Deutsch in dreißig Jahren lernen kann. Es liegt daher auf der Hand, dass die letztgenannte Sprache zurechtgestutzt und repariert werden sollte. Falls sie so bleibt, wie sie ist, sollte sie sanft und ehrerbietig zu den toten Sprachen gestellt werden, denn nur die Toten haben genügend Zeit, sie zu lernen.
Danke für das Gespräch.
»Interview«: Christina Matte
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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