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Woher weiß der Dichter das von mir?

HANNS CIBULKA: »Labyrinth des Lebens«, ein Brevier

  • Horst Nalewski
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein »Brevier« – es möchte eine Verführung zum Werk des Lyrikers und Diarienschreibers Hanns Cibulka (1920-2004) sein: vom ersten Gedichtband »Märzlicht« (1954) bis »Späte Jahre« (2004). Hans-Dieter Schütt, der das Wagnis einer Auswahl angegangen ist, bekennt in seinem exzellenten Nachwort: »Ich habe herausgesucht, was mich ein Leseleben lang begleitete«, und er schließt, betroffen und getroffen: »Es ist ein so forderndes, erhebendes und für mich lebenserhaltendes Bleiben in seinem Werk.« Ein, ich gestehe, seltenes Bekenntnis zum Lebensraum der Dichtung heute, in dieser Zeit!

Die Auswahl ist nicht chronologisch, sondern thematisch gegliedert. Zwölf Kreise, jeweils durch ein Cibulka-Motto eingeleitet, das der Herausgeber paraphrasiert: »Jede Blüte ein Lidschlag« / Natur, Natürlichkeit. »Noch im Staub ein Rosenstock« / Lebens- und Weltkreis im Vers. »Auf nacktem Fels« / Wir, der Mensch von heute. »Stilles Licht, das wir nicht sehen« / Alter, Tod und das Danach. Um vier Beispiele zu geben. Und dann Reflexionen, Aphorismen, Betrachtungen, Skizzen, Gedichte, die keine erbauliche Blütenlese sein wollen, sondern eine Fragmenten-Sammlung, die des Lesers Ergänzung bedarf. So entstünde ein Zwiegespräch, gipfelnd in der »Frage« – schön von H.-D. Schütt eingestanden – »Woher weiß der Dichter das von mir?« Fünfzig Jahre Blick eines Dichters in die Welt und der Versuch der Wortgebung: »Schreiben als Erkenntnisprozess«. Hier ist's geschehen. Reichtum der Blicke: Kindheit und Katholizismus im ostböhmischen Altvatergebirge; Soldat im Zweiten Weltkrieg, Polen, Sizilien, Gefangenschaft – ein Trauma; Verlust der Heimat und ansässig werden im Thüringischen; eingebunden in die Hoffnungen eines neuen Deutschlands im Osten; Selbstfindung im Kosmos eines nicht aufgebbaren Humanismus: »Freundschaft mit der Erde« (Goethe); Lauschen auf die Stimme der Natur – und von daher, schon früh, Sorge um den Weg der Menschheit. Heute: ein Irrweg; so mit Bitternis am Lebensende eingestanden.

Denn: »Liegt der Sinn des Lebens nicht allein schon in der Fähigkeit des Menschen, sich selbst und die Natur zu erkennen?« Denn: »Wenn das Gewissen schrumpft, gibt es in absehbarer Zeit auch keine Schuld mehr, wir werden leben wie die Tiere.« Denn: »Noch nie war unser Leben so zerbrechlich wie heute, unter den Sternen zeichnet sich eine Katastrophe ab. Der Mensch hat die Natur herausgefordert, ich höre, wie sich die Geister leise ordnen, ehe sie zum Sturmangriff übergehen. Obwohl die Temperaturen nur langsam steigen, fühlen wir bis in unsere Fingerspitzen die Bedrohung. In allen Dingen wächst verdeckt die Angst. Wir leben in einer vulgären, machthungrigen Gesellschaft, voll von einer hochmütigen Verlorenheit.«

Dies ist kein Buch, das man hintereinander wegliest. Man muss ihm und sich selbst Zeit geben, es lange auf dem Büchertisch liegen lassen und in einem bedürftigen Moment nach ihm greifen.

Probe aufs Exempel, was löst eine solche Strophe in uns aus? »Die heroischen Töne verblassen,/kein Echo mehr findet das Pathos,/anders wächst Menschlichkeit dem Menschen/heute zu: // durch / Kargheit.« Jeder mag's mit sich selbst ausmachen.

Spaß gibt's hier kaum, Ernst herrscht vor. Denn: »Was wäre Literatur, wenn sie nicht schützen, wenn sie nicht warnen dürfte, wenn sie ihre Mahnungen nicht hinausschicken könnte in das Gewissen der Welt?« – Der Verlag hat dem »Brevier« eine schöne Gestalt gegeben: eben ein Buch von Dauer.

Hanns Cibulka: Labyrinth des Lebens. Ein Brevier. Hg. v. Hans-Dieter Schütt. Eulenspiegel Verlag. 128 S., geb., 12,95 €.

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