• Kultur
  • Buchmesse Frankfurt am Main

Soziales Handeln

PIERRE BOURDIEUS ALGERIEN-SKIZZEN

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 2 Min.

Mit dem Satz »Soziologie ist ein Kampfsport« beschrieb Pierre Bourdieu (1930 – 2002) in einem Radio-Interview sein Selbstverständnis als Wissenschaftler. Kaum ein Soziologe hat sich so eingehend mit der öffentlichen Rolle der Intellektuellen und der Rolle der Massenmedien in der modernen Gesellschaft auseinandergesetzt wie er, kaum ein Theoretiker hat so klar zu politischen Fragen Stellung bezogen.

Mit 25 Jahren – er war gerade Philosophielehrer geworden – nahm er als Soldat Mitte der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts am Algerienkrieg teil und führte dort nach Abschluss seines Militärdienstes erste Feldforschungen im wissenschaftlichen Grenzraum zwischen Ethnologie und Soziologie durch, die zwangsläufig auch zu einer politischen Abrechnung mit dem Kolonialismus führten. Jetzt liegen alle seine Algerien betreffenden Texte versammelt in deutscher Übersetzung vor – eine kaum zu überschätzende Fundgrube, ein Schlüssel zum späteren Gesamtwerk Bourdieus, ein Wegweiser zu seiner Forderung nach einer »teilnehmenden Objektivierung« in den Gesellschaftswissenschaften, zugleich eine weitsichtige, feldforschungsbasierte Prognose der Zukunft Algeriens.

Man muss sich das einmal vorstellen: Mitten im blutigen Algerienkrieg untersucht der junge Philosophielehrer gegen alle Widerstände der ganz Algerien beherrschenden französischen Militärführung die Lage in den autoritär erzwungenen Umsiedlungslagern, in denen etwa ein Viertel der algerischen Bevölkerung fern von ihren Heimatdörfern konzentriert wurde. Zu seiner Gruppe zählten arabische und berberstämmige Algerier, Studenten zumeist, mit denen er die Interviews gegen den Argwohn der französischen Kolonialbehörden und gegen das Misstrauen der befragten algerischen Bevölkerung durchführte. In den fast 20 Beiträgen, meist unmittelbar nach den Untersuchungen niedergeschrieben, setzt sich Bourdieu kritisch mit dem Kolonialismus in Algerien, seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Rückwirkungen dieser Folgen auf die französische Haltung auseinander. Die frühe Vernichtung der kollektiven Eigentums- und Bewirtschaftungsformen, die Vertreibung algerischer Landbewohner von den fruchtbarsten Gebieten, die zwangsweise Einführung von kleinteiligem Privateigentum, die Installation kapitalistischer Geldwirtschaft anstelle einer bis dahin funktionierenden, auf persönlichen Beziehungen und traditioneller Solidarität beruhenden Gemeinschaftsordnung zerstörten die algerische Gesellschaft nachhaltig. Die bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eingeleitete Entwurzelung der Menschen, die »soziale Vivisektion« durch diese »Modernisierung« von oben, fand in den Umsiedlungslagern ihren fatalen Höhepunkt.

Die umfangreiche Einleitung von Tassadit Yacine weist auf die Bedeutung von Bourdieus Algerien-Skizzen, die das Problem, Beobachter oder Handelnder zu sein, verdeutlichen, also Praxisbezogenheit von Wissenschaftlern einfordern.

Pierre Bourdieu: Algerische Skizzen. Hg.v. Tassadir Yacine. A. d. Franz. v. Andreas Pfeuffer, Achim Russer u.a. Suhrkamp. 523 S., geb., 32,90 €.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.