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Labyrinth der Bücherwelt
JORGE LUIS BORGES und der »universale Traum«
Der Buchumschlag zeigt ihn sinnend auf einem Lehnstuhl unter Palmen. Das Gesicht – erleuchtet – zum Himmel gewandt. Wir wissen: Jorge Luis Borges (1899-1986) hat im Laufe seines Lebens sein Augenlicht verloren. Ein blinder Seher? Die Vorstellung mag viel zum Nimbus des Erzählers, Lyrikers und Essayisten beigetragen haben, der heute als größter Autor Argentiniens und Klassiker der Weltliteratur gilt. Ihm indes war klar: Was ein Literat als sein Ich betrachten mag (das es eigentlich so nicht gibt), hat nur vage damit zu tun, wie ihn die Nachwelt einordnet in den »universalen Traum, der das Gedächtnis ist«.
Das Bild, das ich von Borges habe: ein Dichter, der zugleich universaler Denker ist. Ein Mann, der sich im Labyrinth der Bücherwelt befindet, in der auch Vergangenes Gegenwart ist. Dem das reale Jetzt dadurch in den Hintergrund rückt. Aber dieses Bild mag auch Spiegel sein (Borges nutzte gern diese Metapher) für das Gefühl eigenen Ungenügens, sich eben nicht so vertieft zu haben, weil reale Lebensfülle einem auch wichtig ist.
Das ist der Gewinn dieses Bandes, der teils noch nicht auf Deutsch veröffentlichte Texte von 1922 bis 1985 enthält: Man streift durch die Gedankenwelt eines Genies (will es einem scheinen) und staunt, wie viel davon »mitzunehmen« ist. Natürlich sind es nur Bröckchen von einem Gebirge. Bröckchen? Eher Edelsteine! Aus unterstrichenen Sätzen ließe sich eine Zitatensammlung erstellen. Literarische Größen: Borges gefiel es, seine Wertungen auf den Punkt zu bringen – über Cervantes und Tagore, Joyce und Kafka, Chesterton, de Quincey, Nietzsche, Apollinaire, Werfel, Jünger, immer wieder Schopenhauer. Und das alles grundiert durch Bezüge auf die alten Griechen, die nordische Mythologie, das Alte Testament. Da suche ich in Borges' geistiger Welt nicht nach Lücken, die es zweifellos gibt, viel mehr interessiert mich, was in der meinen fehlt, um es mit seiner Hilfe aufzufüllen.
Überschauen, durchdenken, verstehen, definieren – Mytho-mane in seinen künstlerischen Werken, zeigt sich Borges hier als Rationalist, der eine Lust daran hat, den Dingen Deutung zu geben. Was ein Traum und was ein Albtraum ist, was wir vom Gedächtnis erwarten können und was nicht, worin die Unterschiede zwischen englischem und französischem Literaturverständnis bestehen, womit der Nationalismus lockt. »Die Deutschen«, heißt es an anderer Stelle, »sind unfähig, spontan zu handeln, und brauchen immer eine Rechtfertigung für das, was sie machen wollen. Sie müssen sich selbst in der dritten Person sehen und überdies vergrößert, ehe sie handeln.« Treffende Worte findet Borges zur abendländischen Kultur und zu Europa. Selbst Engel machen ihn nicht sprachlos ...
Literaturexperten können sich ein Beispiel nehmen, wie oft das Wort »ich« verwendet wird. Dass es seine Meinung, seine Erfahrung ist, Borges ist sich darüber im Klaren und verhüllt es nicht. Dieser polyglotte Enzyklopädist zeigt sich ohne Dünkel, als ein Bescheidener, der nach dem Universalen strebt, das aber ein Fließen ist, wie er weiß.
Den letzten Teil des Buches bildet ein autobiografischer Essay. Hier offenbart sich die »Ikone Borges« als Mensch, der über manche Klippen zu gehen hatte. Sein berühmtes Werk »Die Bibliothek von Babel« hat er nicht etwa in der Nationalbibliothek von Buenos Aires geschrieben, wo er später Direktor war, sondern in einer abgelegenen Filiale der Stadtbücherei. Vor der langweiligen Arbeit des Katalogisierens und den groben Späßen der Kollegen floh er in den Keller. »Die Anzahl der Bücher und der Regale, die ich in der Erzählung erwähne, war buchstäblich das, was ich am Halse hatte. Kluge Kritiker haben sich über diese Ziffern Gedanken gemacht und ihnen großzügigerweise mystische Bedeutung zugeschrieben.«
Jorge Luis Borges: Ein ewiger Traum. Essays. Hg. u. übers. v. Gisbert Haefs. C. Hanser. 304 S., Leinen, 21,50 €.
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