Schütt' Hormone über mich ...
Zur Seele: Erkundung mit Schmidbauer
Es ist eine fesselnde Frage, weshalb sich Menschen nicht zufrieden damit geben können, dass sie etwas erleben, sondern gerne wissen wollen, warum sie das tun. Eine erste Antwort fällt leicht: Die Suche nach einer Ursache erleichtert es uns in manchen Fällen, Abhilfe zu schaffen. Wer sich einen Dorn in den Fuß getreten hat, tut gut daran, herauszufinden, warum die Sohle plötzlich schmerzt; so kann er den lästigen Eindringling entfernen.
In vielen Fällen aber läuft diese Warumfrage quasi hochtourig im Leerlauf. Sie wird in peinigender Monotonie wiederholt, ohne dass sich eine Antwort finden lässt. Verlassene Liebende fragen sich über Wochen und Monate hin, warum ihr Partner sie nicht mehr begleitet. Nach einem Todesfall quält die Frage, warum dieser liebe Mensch sterben musste; angesichts einer Erkrankung – warum gerade ich? Der therapeutische Rat in diesen Fällen läuft darauf hinaus, nicht mehr nach einer Antwort zu suchen, sondern sich klar zu machen, dass jede ohne derlei Grübelei verbrachte Stunde eine gewonnene Stunde ist.
Wenn biologische und kulturelle Evolution den Menschen mit der Fähigkeit zur Reflexion ausgerüstet haben, spricht das dafür, dass sie uns vorwiegend nützt – in der Bewältigung der äußeren Realität. Wenn sie damit gleichzeitig unsere Ängste vervielfacht hat, nimmt die Natur das in Kauf. Unsere Psyche ist nicht konstruiert, um uns Wohlgefühle zu verschaffen; sie soll das Überleben der Art sichern.
Wo es freilich besonders wichtig ist, dass Menschen aktiv bleiben, steuert die Psyche unser Erleben mit zwei Systemen: Sie bietet Lust und droht mit Unlust. Das gilt für den Hunger und für die Liebe: Mangelgefühle treiben uns an, sie zu suchen. Sobald wir aber den Mangel beheben; verschwindet er nicht nur; es belohnt uns auch die Lust.
Aber auch hier wollen die Menschen wissen, warum das so ist. Warum sehnen wir uns nach Liebe? Warum haben wir Hunger? Die Wissenschaft ist da weniger drängend; sie untersucht, wie die entsprechenden Erlebnisse zustandekommen, verbindet den Hunger mit einem Mangel an Energieträgern im Blut und hat für die Liebe eine lange Reihe von Botenstoffen entdeckt, ohne deren Zutun die Sache manchmal nicht funktioniert.
Wichtig ist hier das kleine Wort »manchmal«. Wenn beispielsweise eine Frau mit Symptomen der Wechseljahre zum Spezialisten geht und dieser ihr nach einer ausführlichen Untersuchung erklärt, ihr Leiden sei auf einen Hormonmangel zurückzuführen, versäumt er in der Regel, sie darüber aufzuklären, dass durch die Straßen vor der Praxis jede Menge Frauen spazieren, die den selben Hormonmangel, aber keine Symptome haben.
Jüngst habe ich einen Text entdeckt, in dem ein Kollege die Bedeutung der Sexualität für unser Leben mit einem Vergleich beleuchtet, der auf geradezu rührende Weise die kindliche Warumfrage mit der Physiologie verbindet. Roland Weber, Paartherapeut in Stuttgart, schreibt: »Aufraffen lohnt sich. Der Grund ist einfach und vielfach belegt: Beim Sex belohnt uns Mutter Natur, indem sie zwei Hormone ausschüttet, das Glückshormon Dopamin. Das Ergebnis ist eine positive Aufgeregtheit. Zum Zweiten das Bindungshormon Oxytocin, das Menschen aneinander bindet.«
Stilistisch ist das etwas holprig, aber das macht eine Botschaft wett, zu der einem das Märchen von Aschenputtel in den Sinn kommt: Das verwaiste Mädchen eilt auf den Friedhof, wo der gute Geist der Mutter auf sie wartet. »Bäumchen rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich!« sagt es, und schon fallen Tanzkleid und Schuhe herunter.
Dennoch kann man ins Grübeln kommen. Belohnt uns jetzt Mutter Natur, weil wir Sex haben? Haben wir Sex, weil wir uns an die letzte Belohnung durch Mutter Natur erinnern? Warum haben wir überhaupt angefangen mit dem Sex? Dass wir mit Hormonen belohnt werden, wussten wir damals doch noch gar nicht! Das Glückshormon Dopamin wird auch ausgeschüttet, wenn wir Achterbahn fahren oder uns an Gummiseilen in Abgründe stürzen. Was hat nun das wieder mit Sex zu tun? Oder mit Glück?
Fragen über Fragen.
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