Weißer Flecken Erinnerung
Dirk Werner
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Die Straße lag abseits. Für mich Zugereisten zählte sie in den achtziger Jahren nur zum unbewussten Teil meiner Berlin-Wahrnehmung. Als Straße wusste ich sie – oder wusste sie vielleicht auch nicht – einfach jenseits der S-Bahn, die den Stadtbezirk Mitte südlich von ihr durchschneidet. Hier Alexanderplatz, Fernsehturm, Palast der Republik, mit dem bisschen – lächerlichen – Glanz, da, auf der anderen Seite der S-Bahn-Bögen: sie. Sie lag auch jenseits vom Rosa-Luxemburg-Platz mit Volksbühne und dem Kino Babylon im Osten, jenseits der geschichtsträchtigen Friedrichstraße im Westen, mir sogar abseits des Platzes nördlich von ihr, der ihren Namen trägt. Und den ich ja immerhin kannte, da ich ihn manchmal, bedingt durch meine Arbeit, querte. Aber als Mitte eines eben von mir beschriebenen Vierecks war die Straße immer nur ein Loch in meinem Kopf.
Das änderte sich in den neunziger Jahren. Nicht nur, weil das ehemals heruntergekommene Scheunenviertel einen dramatischen Bedeutungswandel erfuhr, der am stärksten am Touristenmagnet Hackesche Höfe sichtbar wurde, sondern weil die vorher für mich so anonyme Straße, vor allem durch einen Arbeitskollegen, schlagartig zu der Rosenthaler Straße wurde. Da wusste ich nicht, dass die Häuserzeilen zu einem Ort werden würden, an dem ich eine Zeit sehr intensiv arbeiten würde, zu einem Namen, den ich nicht wieder vergesse.
K. kannte ich schon, bevor wir zusammen arbeiteten. Er pflegte nicht nur wie ich alte Menschen, sondern studierte auch. Museumskunde. Neben der Universität und unserer Sozialstation besuchte K. regelmäßig noch einen dritten Ort – die alte Straße und den Hinterhof. Hin und wieder erzählte er, was er und seine Studienkollegin dort machten, was es mit den Räumen in der Rosenthaler Straße auf sich hatte. Aber ich war wohl zu sehr in meine eigene schwere Arbeit mit den alten Menschen verwickelt, damals, als sich das Jahrtausend seinem Ende zuneigte.
Am Abend ging ich, so oft ich nur konnte, ins Theater, und so sah ich auch »Ab morgen heißt du Sara« im Grips-Theater am Hansa-Platz. Und merkwürdig, von dem Stück, das ich trotz der Bauchschmerzen, die ich vor dem ersten Besuch verspürte, in meinem Leben mindestens dreimal erlebte, spann sich schon ein zweiter Faden zu dem Ort hin, über den ich hier heute spreche. Doch weiß ich, ehrlich gesagt, nicht genau, wann ich zum ersten Mal selbst im zweiten Hinterhof des Hauses mit der Nummer neununddreißig stand. War nun nur wenige Einfahrten weiter mit den schon erwähnten Hackeschen ein touristisches Mekka entstanden, ja, mit der Oranienburger Straße, der Großen Hamburger, der Rosenthaler und der Alten Schönhauser ein Berlin erst geschaffen, das so recht nach Gusto, Geldbörse, Klischee und Erwartung der Berlinbummler war, vorherrschte hier noch im Kleinen vor allem: der Bruch. Das bis heute so extrem typische Merkmal der großen Stadt.
Mit dem Durchschreiten der Hinterhöfe tauchte ich in die DDR ein (in die Ostberlin-DDR, die eine andere gewesen war als das kleine Land ringsumher). Gleichzeitig glaubte ich, dreißiger, zwanziger Jahre und sogar Momente der stürmischen Gründerzeit der ehemaligen Reichshauptstadt zu spüren. All das war und war nicht. War in Atomen noch vorhanden oder zerfiel in jedem einzelnen Augenblick zu Atomen, wurde beschrieben vom bröckelnden Putz in der ihm eigenen Schrift, während diese Nachrichten gleichzeitig immer weiter von den Ablagerungen der Großstadtluft zerstört wurden. Die nackte Häuserhaut. Darunter: die Knochen der Vergangenheit
Im Seitenflügel des zweiten Hinterhofes stieg ich ausgetretene Stufen empor. K. musste mir schon einiges erzählt haben, denn ich besinne mich gut der Enttäuschung, die ich spürte, als ich die Räume zum ersten Mal betrat. Nichts von dem Besonderen, das ich erwartet hatte. Kein Hauch der Geschichte zwischen den Wänden. Die kleinen, niedrigen Zimmer schienen von der Sorte, wie es sie hundertfach in der DDR gegeben hatte. Verblichene Farben hier und da, bröckelnder Putz und knarrende Dielen, die seit Jahrzehnten ungestrichenen Fenster gingen alle auf den Hof. Ich sah Schemel und wenige Werkbänke, ein paar Arbeitsgeräte, Schränke. Allein –
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mit dem Betrachten der wenigen Bildtafeln, dem Lesen der Texte an den Wänden hoben sich die Räume aus ihrer tristen Umgebung, füllten sich mit Geschichte und Geschichten: »Blindenwerkstatt Otto Weidt«. – Als ich die Werkstatt zum ersten Mal betrat, war sie an vielen Stellen in ihrem ursprünglichen Zustand. Es geschah wirklich, völlig unerwartet, dass ich mich für Momente um Jahrzehnte zurückversetzt fand, in eine kleine Firma mitten in Berlin. Ich hörte die Geräusche, die die Arbeit begleiteten (Bürsten und Besen wurden gemacht), die Stimmen drinnen und von draußen den gedämpfte Lärm der Stadt …
Das Geheimnis, das diesem Ort innewohnt. Meine unvorhergesehene Nähe zu dem Haus – das Berührende all dessen – die Erinnerung an diesen Besuch. Spätere Besuche … Nicht nur, weil etwas hier geschehen und mir davon erzählt worden war, nicht nur, weil es mir wieder einfiel, sondern weil auf einmal ein direkter Weg in die Vergangenheit möglich schien – die Verlassenheit der Räume fasste mich an. Es hingen keine Gedenktafeln, noch keinen Eingang hatte das Haus in alle Geschichtsbücher, in die Touristenführer, gefunden. Zwar war, was hier geschehen, vor Jahren schon westlich der Mauer aufgeschrieben und veröffentlicht worden (ich erfuhr es nach und nach). Inge Deutschkron, eine Zeitzeugin, verfasste den Roman »Ich trug den gelben Stern«. Zwar war dieses Aufgeschriebene dramatisches Erlebnis für Zuschauer und Zuschauerinnen geworden – eben durch das Theaterstück »Ab morgen heißt du Sara«, das im Grips-Theater von Volker Ludwig und Detlev Michel nach dem Roman entwickelt wurde. Aber der Ort dessen, der verschwundene und vergessene Raum lag hier, war jetzt, eben erst, durch K. und seine MitstudentInnen entdeckt worden. Und er war so wirklich, wie all das von Inge Deutschkron Mitgeteilte schrecklich wirklich gewesen war.
Ich spürte, wie ein Raum zu reden anfängt. Wie er seine Geschichte wieder bekommt. Und ich musste daran denken, dass es noch immer Dachböden und Keller im ganzen Land gibt, mit denen noch immer die gleiche Entdeckung und Erforschung möglich wäre. Vielleicht nur wenige, aber wir wüssten mehr über uns. So dass sich die Frage stellt, ob wir unsere Aufgabe der Erinnerung nicht vor allem den Institutionen überlassen haben, den Museen, Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen. Oder – ob es eine private Angelegenheit gibt wie die persönliche Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit, die uns nur scheinbar nicht mehr berührt. – Müssen wir inzwischen nicht auch an das Erinnern erinnern wie an seinen Gegenstand …?
Den wir nie vergessen wollen, den wir durch Suche, Erkundung und Erkundigung, durch neue Wege und neue Formen der Begegnung mit ihm lebendig halten können.
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Denn es gab sie, in nahezu jeder der Familien, denen wir entstammen: Die Täter oder Opfer der Nazizeit. Meist beide und im selben Moment in ein und derselben Familie, wie die gegenwärtig intensiven Nachforschungen einer Freundin in Berlin zu der Vergangenheit ihrer eigenen, weit verzweigten Verwandtschaft eindrücklich und unfassbar grausam belegen.
Auch die Werkstatt selbst hieß für mich im Moment meiner persönlichen Entdeckung des schon Entdeckten nichts anderes als: Gewalt. Sie ließ mich den Geruch, den Geschmack, das Gefühl einer unaufhörlichen Bedrohung, wenn auch nur, ahnen. Straßen und Plätze in Berlin, die namhaften wie die bedeutungslosen, sie, die vorher harmlos waren und heute wieder harmlos sind (so weit es eine Großstadt eben sein kann), bedeuteten höchste Gefahr, Lebensgefahr. Für politische Gegner wie für die Juden wie für die Homosexuellen und andere Minderheiten waren die Oranienburger Straße und die Große Hamburger wie alle harmlosen Häuserzeilen und Alleen und Kreuzungen nicht mehr gewöhnlicher Kiez. Die Aussonderung von Menschen schritt unaufhörlich voran, die Entrechtung, der Ausschluss, die Enteignung und die Vernichtung.
Wie dies vor sich ging, die Etappen sich in den Augen, Gefühlen, Gesichtern der Betroffenen widerspiegelten, veranschaulicht das Theaterstück plastisch. Obwohl die einzelnen Szenen fast ausschließlich in den Räumen der Werkstatt spielen, sie also in den Innenräumen statthaben, wird das Außen immer stärker, unabweisbarer. In jeder Sekunde entfaltet es seine Präsenz. Sich ihm zu entziehen, ist auch deshalb unmöglich, weil es sich bei den Verfolgten nicht nur um Juden, sondern um blinde und gehörlose Menschen handelte.
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Andererseits: Hier also.
Hier hatte es Rückzug und Flucht gegeben. Nicht nur die Enge der Angst, sondern ebenso – zur allerletzten Not – den Schlupfwinkel, ein gutes Versteck. Hier, kaum woanders. Denn an dieser Stelle hatten sie widerstanden, und einer besonders: Otto Weidt. Dem Stande nach ein einfacher Mann, kleiner Unternehmer, Inhaber der Blindenwerkstatt in der Rosenthaler Str.39, hatte er damals hier in einem Raum über Monate eine vierköpfige Familie versteckt. Durch Bestechung holte er seine schon zum Transport in die Große Hamburger gebrachten Mitarbeiter zurück, und er bereitete die Flucht der Alice Licht – ein weiterer wichtiger Name in der Geschichte dieses Hauses – aus Auschwitz vor. Zudem mietete er weitere Lagerräume in Berlin an, um sie als Verstecke zur Verfügung zu stellen.
Er war ein anderer in seiner Zeit. Dass er so war und sich so verhielt, die Möglichkeiten, die er damit aufwies – genau das machte auch meine Gefühle an diesem Ort aus.
Lasst ihn uns feiern, er war ein Mensch.
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Auch das ist die Wahrheit: die verlassenen Räume. Was mit vielen anderen der auf einem Gruppenfoto von 1941 in der Werkstatt abgebildeten Menschen geschah, ist nicht bekannt. Von den meisten blieb nur das Foto. Und die Werkstatt selbst … Jahre nach meinem ersten Besuch bekam ich eines Nachts eine deutliche Vorstellung, wie ich mit Bildern an sie erinnern könne. Mit Bildern, die nur dem einen noch vorhandenen Foto entspringen, und den im Hinterhof versteckten Räumen. Doch – was vermögen Lichtbilder angesichts verlassener Räume und einer einzigen Fotografie, darauf Menschen, die drangsaliert, verfolgt, vernichtet wurden?
Ich habe die einzelnen Personen, die sich auf dem Gruppenbild befinden, auf einen Film belichtet. Mit Stativ und Sucher, in Ruhe und Geduld näherte ich mich jedem Gesicht. Und wieder war es eine unerwartete Art der Annäherung; Unmittelbarkeit entstand aus dem Einfangen jedes einzelnen durch den Sucher.
Einem aus dem Gruppenbild Genommenen geschieht Ähnliches, wie wenn sich einer in Wirklichkeit aus einer Gruppe entfernt: Er wird Besonderer, auf eine besondere Art bedeutsam oder einfach nur ein für sich Stehender.
Ein Mensch, aus dessen Gesicht und Haltung das eigene Leben spricht.
Hatte ich die sechsunddreißig Bilder mit diesen Porträts voll, verwendete ich den Film erneut. Ich spulte zurück und nahm nun auf demselben empfindlichen Material die ganze Werkstatt auf, Fenster, Wände, Maserungen, Farbschichtungen – Narben der Zeit. Es konnte durchaus passieren, dass ich den Film noch ein drittes oder viertes Mal zurückspulte und abermals verwendete, die Spuren in den Räumen einsammelte oder sie erst – bestätigten mir Mitarbeiter des Museums Blindenwerkstatt – durch mein Ausleuchten sichtbar machte. Das konnten kleinste Hinterlassenschaften der Bewohner der damaligen »Republik« sein (wie sie die Werkstatt unter sich nannten), oder die Späterer. Die Gesichter der blinden oder gehörlosen Juden von vor über einem halben Jahrhundert, ihre Augen, Antlitze kehrten durch die Aufnahmen in die Werkstatt zurück. Sie waren plötzlich hier, nahmen von den Räumen erneut Besitz und, andersherum betrachtet, die Räume zeigten, dass sie sich wirklich an diese Menschen erinnerten. Auf dem empfindlichen Material mischten sie sich ineinander, die einzelnen menschlichen Gesichter und die Antlitze, die der Ort durch den Gebrauch durch Menschen bekommen hatte. Dies alles neben dem Umstand, dass ein Raum ein ganz anderer wird, Fluchtmöglichkeiten der Fantasie bietend, wenn man ihn fotografiert.
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Kunst ist dazu da, es mit dem Tod aufzunehmen. Kann die Ermordeten, die grausam Gequälten nicht zurückholen. Aber sie kann die Lebenden, die Lebendigen, uns noch einmal zeigen. Weit, weit herausstellen aus dem Vergessen.
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