Aufstieg der Heruntergekommenen
Nun ist wieder Dschungelcamp-Zeit: Bewegung im »Kapitalismus der Aufmerksamkeit«
Es ist gleich wieder soweit: im Fernsehen Dschungelcamp-Zeit. Erinnerung daran, mit welch letzter Kraft Menschen um das wahre Empfinden von Anwesenheit kämpfen. Nur wer medial da ist, nur wer veröffentlicht wird, der lebt. Aufmerksamkeit, die ein Mensch verdient – es ist dies eine Maßeinheit der Nächstenliebe. Gewesen.
Heute nämlich verdient man Aufmerksamkeit auf genau die Weise, wie man Geld verdient. Sie ist eine Währung geworden. Gezahlt wird mit dem Schein, der trügt. Der Soziologe Georg Franck hat dafür das Wort vom »Kapitalismus der Aufmerksamkeit« gefunden. Ein öffentlicher Raum werde in einen Markt umgewandelt, »auf dem einerseits Information geboten und mit Aufmerksamkeit bezahlt wird, und auf dem andererseits eine Attraktionsleistung für Geld verkauft wird«.
Kulturbetrieb und Sport, politische Auseinandersetzung und Parteienkonkurrenz vollziehen sich nur noch auf diesen neuen Märkten, die mit Dschungelcamps, Containern und Talkshow-Sesseln die Welt verstellen, Welt zu sein vorgeben. Besucherzahlen, Einschaltquoten, Umfrage-Ergebnisse – all das etablierte sich zu einem Wertmaß, das jedes Produkt in eine Marke zwingt, jeden Politiker zu einem Mediendemokraten vereinseitigt.
Und so, wie ein Markt aus dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage besteht, so durchdringen sich immer industrieller die Attraktionsvorgaben und jene große öffentliche Bereitschaft, für diese Attraktionen mit dem anonymen Zahlungsmittel der Aufmerksamkeit zu zahlen. Gezahlt wird vom Konsumenten für etwas, dessen Wert in nichts weiter besteht als in der Tatsache, dass es Beachtung erlangt. Erst besteht der Kampf darin, bekannt zu werden; später besteht die Botschaft nur noch in penetranter, aber auch immer perfekterer Präsentation jenes Bekanntheitsgrades.
Daher, zum Beispiel, jene neue Berufsanforderung an Politiker: den Aufstieg in einer Partei unbedingt mit dem Reichwerden an medialer Aufmerksamkeit verbinden zu müssen. Bis diese mediale Präsenz in wirklich großer Reichweite auffällig wird und eben nicht mehr einfach nur Politik vermittelnd wirkt, sondern eine ganz eigene Quelle des »Einkommens« darstellt: Aufmerksamkeit wird zu etwas, das sich eines Tages rentiert. Man ist wer, weil man dabei ist. Weil man immer wieder eingeladen wird. Weil man sich als »Experte« herumreichen lassen kann. Weil man Superstar heißen darf.
Selbst noch jeder Kritiker dieses Zustandes arbeitet mit am Steigen des Aufmerksamkeitspegels. Um im Gespräch zu bleiben, reicht es, stetig im Gerede zu sein.
Diese mediale Aufmerksamkeit besitzt die Statur eines eigenen kapitalistischen Systems: Die Leistung, öffentlich zu sein, lohnt sich – und nur sie lohnt sich. Zugespitzt: Erst wenn der Politiker im Fernsehen auftaucht, ist er angekommen in der Politik. Nicht im eigentlichen Geschäft der Politik, aber in der Politik des obwaltenden Geschäfts.
Georg Franck: »Die Reichen, die es auf den neuen Märkten zu etwas bringen, sind reich an Beachtung. Die Armut der leer Ausgehenden ist die Armut an sozialer Anerkennung. Arm ist, wer nicht genug Beachtung und Anerkennung bezieht, um sein Selbstwertgefühl intakt zu halten.« Daher auch jene nicht abebbende Flut der nachmittäglichen Talk-Shows, in denen der Terror des Privaten sich wie ein permanent explodierender Sprengstoff in unsere Wahrnehmungsorgane hineinschießt. »Das Lumpenproletariat der Beachtungsökonomie« (Franck) holt sich so jene Aufmerksamkeit, die anders nicht zu holen ist.
So wie die besagte Aufmerksamkeit und ein dauerndes mediales Erwähnt- und Zitiertwerden zur eigendynamischen Wertschöpfung wird (Dieter Bohlen saß beim letzten Bundes-Presseball schon mal am Tisch des Bundespräsidenten), so gibt es also auf der anderen Seite eine neue Ausgegrenztheit: Es ist eine des fehlenden Zugriffs auf eine Präsentationsfläche, die Aufmerksamkeit garantieren könnte. Eine Gesellschaft kann ja nicht unbegrenzt viel Aufmerksamkeit vergeben, die Sendeplätze sind – bei aller Ausbreitung im Seichten, Geschmacklosen, Aggressiven – begrenzt. Also wird, wie auf anderen Kapitalmärkten, der Konkurrenzkampf härter. Immer mehr Inhalt muss wie Ballast abgeworfen werden. Immer mehr von sperrigem, Anstrengung voraussetzendem Sinn muss getilgt werden. Der Stimmungskern des gegenwärtigen Zeitalters wird also vom Leicht-Sinn bestimmt, der die Schwere lässig aufs Kreuz legt. Jene Menschenkultur, sich selber in allem, was man tut, etwas strenger anzufassen – sie hat längst den Ruch eines lebensfremden Masochismus. Zerstreuung wurde so zu einer furchtbaren Wahrheit: Weil man nicht mehr wirklich von Wert ergriffen sein kann, greift man auf vieles zu. Der Mensch als eine Art negativer Atlas, der die ganze Gewichtslosigkeit des Universums trägt. Leben in schaler Entlastung.
Für die Kulturbestimmung des Einzelnen wird in solcher Lage zur Gretchen-Frage, ob er in Talk-Shows auftritt oder nicht, ob er sich in Container oder Dschungelcamps einsperren lässt, und naturgemäß auch: ob er lesend oder zuschauend Standvermögen aufzubringen vermag, sich nicht am Aufmerksamkeits-Zirkus zu beteiligen.
Dass dieser Zirkus als Kapitalismus bezeichnet wird, schließt die Erfüllung von Kriterien ein, die einen Kapitalismus kennzeichnen: So gibt es tatsächlich Verelendung – der Sinne und Empfindungen. Es gibt unter den Machern die grenzenlose Apologie der Kommerzialisierung – unter dem Verweis auf die Freiheit von Meinung, Kunst und Presse. Es gibt die hochproduktive, gefräßige Zerstörung der Ressourcen – worunter die Knechtung des Denkens und Fühlens unter die lukrative Ökonomie des niedersten Niveaus zu zählen ist (abzulesen daran, wie die Öffentlich-Rechtlichen mehr und mehr ihren Verfassungsauftrag verraten). Gefährlichster Ausdruck dieser speziellen Kapitalisierung des öffentlichen Bewusstseins ist die fortschreitende Enthemmung.
Der Blick in die Welt der vom Scheinwerfer Beleuchteten erfüllt zudem eine verhängnisvolle Doppelfunktion: Er stillt den offensichtlich großen Schau- und Lesehunger, an Exklusivität teilzunehmen – aber zugleich steigert er unmerklich das traurige Gefühl für die eigene Gesellschaftsuntauglichkeit. Irgendwann kann ein Mensch krank daran werden, jener Vorstellung von Attraktivität nicht zu genügen, die ihm ständig aufgedrängt wird. Zumal dann, wenn »Teilnahme« am Leben ohnehin im Zuschauen besteht und nicht (mehr) darin, tatsächliche, soziale Erfahrungen zu machen.
Die Not, nicht wahrgenommen zu werden, quält mitunter schlimmer als fehlendes Geld. Möglicherweise ersinnt der Mensch dann verzweifelt tragische Ideen, die ihn wenigstens ein einziges Mal in die Schlagzeile, ins Blitzlicht rücken. Filmstars auf Theaterbühnen! Bunte Truppen in Parlamente! Sportler ins Rate-Team! Jede Buch-Schwärzung bring Publicity! Und Politiker? Wer einen Namen hat, kolumnistet sich überall ein. Hauptsache, nicht ins Vergessen rutschen.
Das Dschungelcamp, darin zweitklassige Aufmerksamkeits-Millionäre für immer verbannt bleiben, liegt leider in weiter Ferne. Zu viele können sich nicht sattsehen am Schwachsinn, der das ewig gleiche Gesicht einer aufsteigenden, weil schon sehr heruntergekommenen Prominenz trägt.
Foto: dpa
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