Ordnung der Kasernenhöfe

Martín Kohan verwandelt Argentiniens Diktatur in eine Parabel

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Er scheint besessen vom Thema Diktatur: Martín Kohan, Jahrgang 67, Literaturdozent und Erzähler aus Buenos Aires. 13 Prosawerke hat er veröffentlicht, mehrfach schrieb er über die Gewaltherrschaft der Militärs in Argentinien (1976-83). Warum? Weil ihn die Frage interessiert, wie jemand das Grausame, Abnormale einer Diktatur als normal empfinden kann. Denn: »Die Unterdrückungsmaschinerie funktioniert nicht ohne kleine Zahnräder. Und es sind jene kleinen Zahnräder, die das Alltagsleben berühren.«

Zwei Titel von Kohan gab es schon auf Deutsch, eben erschien der dritte. In einem dieser Bücher, dem Roman »Zweimal Juni«, erzählte Kohan vom Wahnsinn des Jahres 1978 – vom Fußballfieber im WM-Land Argentinien und der Folter in argentinischen Gefängnissen. Das aktuelle Buch – »Sittenlehre« – berichtet nicht über äußerliche, körperliche Gewalt. Weder das Opfer noch der Täter steht im Mittelpunkt, sondern jener Typ Mensch, der die Diktatur ermöglichte. Der Mitläufer, das Rädchen. Der Ort: ein Elitegymnasium im Herzen der Hauptstadt, das Colegio Nacional. Die Zeit: 1982, das Jahr vor dem Fall der Diktatur. Die Hauptfigur: eine Frau, unauffällig, nicht sehr helle – eben wurde sie Aufseherin im Colegio.

Eine Insel ist diese Schule, ein Geviert mit düsterem Innenhof, nur wenige Straßen entfernt vom Machtzentrum an der Plaza de Mayo. Ein ummauerter Platz für eine geschlossene Gesellschaft. Von hier kamen und kommen die Führer des Landes. Hier unterweist man sie in Sitte und Moral der Herrschenden. Disziplin ist wichtig, die Ordnung der Kasernenhöfe. Stillsitzen, schweigen, nach vorn schauen. Oder: Stillstehen, marschieren, Abstand halten, die Symmetrie der Unterwerfung. Das Outfit scheint wichtig – Krawatte, Haarschnitt, die Farbe der Strümpfe. Und besonders wichtig sind patriotische Lieder. »Es ist die Fahne! Meiner Heimat! Der Sonn' entsprungen! Von Gott gegeben!« Regelbrüche sind zu ahnden. Geturtel zwischen Jungen und Mädchen – verboten. Kritik an den Lehrern, Widerworte – verboten. Und besonders streng verboten ist das Lachen. Denn lachen zeugt von einem Rest Ungezwungenheit, vielleicht von Renitenz.

Hier drinnen herrscht seit jeher jene Diktatur, die draußen – in der Gegenwart des Romans – gerade reproduziert wird. Beiläufig erfahren wir: Die Außenwelt, das ist eine Stadt im Kriegszustand. Ihre Bewohner wirken, als seien sie einem Luftschutzkeller entstiegen, Menschen auf der Suche nach dem nächsten Bunker, gehetzte, ängstliche Menschen. Doch für die Schule ist dieses Draußen fern, nur weißes Rauschen. Manchmal, selten, dringt die Außenwelt dennoch herein. Klangfetzen – Nachrichten vom Falklandkrieg, Gerüchte von Gewaltakten auf der Plaza de Mayo. Kommentar der Schulleitung: Dies seien »Störungen der gewohnten Ordnung«, aber »kein Grund zur Sorge«. Doch ein Aufseher, der oberste, warnt vorsorglich vor »subversiven Elementen«, die es auszurotten gelte wie Krebs-Metastasen. »Subversive« – so nannten die Militärs alle mutmaßlichen Gegner, sprich: all jene, die gefangen, gefoltert, getötet wurden.

Die Schule, Spiegel der Gesellschaft, ist bei Kohan ein bizarres Universum aus Zwang und Selbstaufgabe. In dieses Universum kommt eines Tages die neue Aufseherin, eine junge Frau, Pony, Brille, Mondgesicht, daheim von der Mutter Marita genannt. Marita die Mausgraue, die Verklemmte – an der Schule verwandelt sie sich in die unnahbare María Teresa. Das Regelwerk gibt ihrem Leben Halt und Sinn, es gibt ihr auch Macht, und auf gewisse Weise wächst sie daran. Erniedrigungen können sie nicht kränken. Die Vorgesetzten verachten sie – na und? Irgendwann wird sie von ihrem Chef vergewaltigt – was soll's; sie bleibt dem System ergeben, nach oben buckelnd, nach unten tretend. María wacht und denunziert, sie schaut, lauscht, schnuppert: Hat nicht irgendwer heimlich geraucht? Rauchen wäre Regelbruch, der Keim der Subversion. Wo hat der Subversive geraucht? Auf dem Jungenklo? María schließt sich dort ein, erst stundenweise, dann wochenlang jeden Tag. Dies ist jetzt ihr Amt: auf der Toilette zu lauern. Sie wird den Normbrecher nicht fassen. Doch bei der Jagd, auf dem Jungenklo, erlebt die sexuell frustrierte Frau Erfüllung und Befriedigung. Und fast, beinahe, tut sie uns leid.

»Sittenlehre« ist ein Roman von strenger Geradlinigkeit. Ein makelloses Stück Prosa, in Aufbau, Stil, Figurenführung. Martín Kohan hat das Trauma einer Minderheit zu einer glänzenden Parabel verdichtet. So, sagt der Autor, so ungefähr funktioniert fast jedes Gewaltregime: Man gebe einem Volk die rechte Sittenlehre und vielen kleinen Geistern ein kleines Stückchen Macht. Die Macht der Aufseherin María Teresa zerbricht am Ende genau so, wie die bislang letzte argentinische Schreckensherrschaft zerbrochen ist: Über Nacht wird die Führung ausgewechselt, sie war wohl nicht mehr tragbar. Das System – plötzlich ist es gelöscht, komplett gelöscht, als hätte es nie existiert. Und María Teresa – jetzt wieder Marita – geht aus der Schule hinaus in die Stadt, hinaus in jenes weiße Rauschen, das den bösen Ausdruck »Diktatur« bis heute so mühelos verschluckt.

Martín Kohan: Sittenlehre. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag. 247 S., geb., 19,90 €.

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