Die Erlösung der Welt

Zur Seele: Erkundungen mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 5 Min.
Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München
Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München

Unsere Psyche ist konstruiert wie eine mehrstufige Rakete. In der Kindheit zünden wir die erste Stufe, welche uns hilft, der Trägheit der Erdanziehung zu entrinnen. In wenigen Jahren verwandelt sich ein hilflos zappelnder Winzling in ein ausdrucksstarkes, bewegliches Wesen, das voller Leidenschaft um seine Macht in der Familie ringt, gegen Geschwister und Eltern kämpft, das spricht und schreit und wünscht und will. Im Alter von vierzehn Jahren erreicht unsere im Test messbare Intelligenz ihren Höhepunkt – so schnell, so gedächtnisstark, so beweglich werden wir nie wieder sein, wie wir in diesem Alter waren.

Damit nicht genug. Mit 14 Jahren beginnt auch eine neue Phase der seelischen Entwicklung, in der sich die ausgebrannte Kindheit absprengt und wir sie bedenkenlos, ja verächtlich hinter uns zerschellen lassen. Das adoleszente Ich steuert in eine Umlaufbahn, von der aus wir uns selbst ebenso wie die Welt in einem ganz neuen Licht sehen. Allmählich reift nach den nackten Fertigkeiten auch die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, über dieses rätselhafte eigene Ich nachzudenken, über Leben und Tod, Sinn und Sein, über das Ziel der Geschichte, den Ursprung der Welt – und die Frage, ob wir diese Welt nicht eigentlich verändern müssten.

So frisch und gleichzeitig radikal wie in der Adoleszenz sehen wir uns und die Welt nie wieder. Sie hat darauf gewartet, von uns erkannt zu werden, erobert, in ihren Verzweigungen erforscht. Sie betrübt in ihrem Leid, ihren Mängeln – und sie schreit danach, besser gemacht zu werden. Das adoleszente Ich ist grenzenlos, von sich selbst berauscht und wenig fähig, sich vorzustellen, auch einmal so zu resignieren, wie das die Erwachsenen tun, welche die Macht in Händen halten und politische oder wissenschaftliche Entscheidungen treffen.

Weltverbesserung, Welterlösung – warum soll es bescheidener zugehen, kleiner sein? Bescheidenheit ist kein Thema der Adoleszenz. Angesichts der geringen Möglichkeiten, an irgendeinen der Schalthebel zu kommen, die Erwachsene fest im Griff haben, muss der Geist nach dem Großen, Ganzen, Umfassenden greifen, das er nie so gut packen kann wie jetzt.

Menschen in diesem Alter sind sehr empfänglich für die Einrede, es gäbe einen Feind, der für alles Böse verantwortlich ist und gegen den alle Mittel erlaubt sind. An die Stelle des langsamen und mühevollen Erwerbs von Ansehen und Sicherheit, wie ihn das Hineinwachsen in die Welt der Eltern erwarten lässt, treten für verletzte und vereinsamte Seelen Versprechungen von Erlösung, von einem Paradies, das dem Todesmut folgt.

Dabei können Adoleszente auch so rücksichtslos sein wie kaum eine andere Altersgruppe. Die chinesische Autorin Jung Chang berichtet in ihrem Buch »Wilde Schwäne«, wie ihre Gruppe eine Frau aufsuchte, die eine Nachbarin denunziert hatte. Über das »Verhör« schreibt Frau Jung Chang: »Dann sah ich die beschuldigte Frau. Sie war um die vierzig und kniete nackt bis zur Taille ... Auf ihrem Rücken war das Fleisch aufgeplatzt, sie war mit Wunden und Blutflecken übersät ... Ich konnte den Anblick nicht ertragen und wandte mich schnell ab. Doch noch mehr erschrak ich, als ich sah, wer sie folterte – ein fünfzehnjähriger Junge aus meiner Schule, den ich bisher recht gut hatte leiden können. Er lümmelte in einem Sessel, in der rechten Hand hielt er einen Ledergürtel und spielte nachlässig mit der Messingschnalle. ›Sag die Wahrheit, sonst schlage ich dich nochmal ...‹, drohte er in einem Tonfall, in dem er auch hätte sagen können: ›Es ist recht gemütlich hier.‹«

Die Dynamik der adoleszenten Einzeltäter ist anders und doch ähnlich. Sie verlieren nicht nur den Kontakt zu ihren Eltern, sondern auch den zu ihrer eigenen Altersgruppe, der Schulklasse, der Clique. Einen respektierten Vater haben sie nie gehabt, sie werden mit den Kränkungen, die das keimende Streben nach Liebesbeziehungen und Erfolg so mit sich bringt, nicht fertig und ziehen sich in Fantasiewelten zurück, in denen ihre Rachewünsche wuchern. Diese setzen sie in seltenen, aber großes Aufsehen erregenden Aktionen – politischer Mord oder Amoklauf – um.

Auch der Mann, der ein Attentat auf eine demokratische Abgeordnete des US-Kongresses verübte, gehört in diese Gruppe. Jared Lee Loughner war ein braver Schüler, bis er an die Schwelle des Erwachsenenlebens trat und sich nach einer Liebesenttäuschung in einen Einzelgänger verwandelte. Sein Opfer hatte er schon drei Jahre früher getroffen und mit einer Frage traktiert, die typisch ist für die adoleszente Neigung zum Grundsätzlichen: »Woher wissen Sie eigentlich, dass Wörter irgend etwas bedeuten?« Gabrielle Giffords, die gerade um Stimmen warb, konnte weder die Frage verstehen noch eine befriedigende Antwort geben. Sie wich aus und wandte sich anderen Teilnehmern der Wahlversammlung zu. Ihr späterer Mörder war nach den Berichten von Zeugen sehr wütend darüber.

Inzwischen wissen wir, dass Loughner sich nicht nur von Hitler und der arischen Bewegung in den USA inspirieren ließ, welche Goldmünzen einführen und alle Regierungsvertreter oberhalb der Kreisebene abschaffen möchte, sondern auch von einem paranoiden Denker im Internet, der sich durch Sprache und Grammatik gehirngewaschen wähnt. In dem Feuer seiner automatischen Waffe starb auch ein Mädchen, das am 11. September 2001 geboren war, dem Tag des Attentats auf die Doppeltürme.

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