These ohne klare Belege
Führen Medienberichte über Suizide zum Werther-Effekt?
Es klingt so einfach und ist doch so kompliziert. In den düsteren, dunklen Winterwochen nehmen sich mehr Menschen als sonst das Leben, so die weitverbreitete Annahme. Und wenn sich jemand tötet und darüber berichtet wird, gibt es bald danach auffallend viele Nachahmer. Vor allem, wenn es um einen Prominenten geht. Dazu passt, was etliche Medien kürzlich meldeten, als sich der Freitod des Fußballtorwarts Robert Enke zum ersten Mal jährte: »Die Zahl der Suizide in Deutschland ist danach sprunghaft angestiegen. Experten vermuten einen Zusammenhang zwischen medialer Berichterstattung und der Zahl der Nachahmer.«
Weiter war zu lesen, dass das Statistische Bundesamt bereits für den November 2009 – am 10. November hatte sich der 32-jährige Enke vor einen Zug geworfen – »die höchste Steigerungsrate des Jahres registrierte«, und zwar 836 statt 767 Fälle im Oktober; das entspricht 10,9 Prozent. Dieser Superlativ ist falsch, wie wir gleich sehen werden. Weiter hieß es: »Zudem war im Dezember auffällig, dass sich im Vergleich zum Vorjahr doppelt so viele Männer zwischen 20 und 25 Jahren das Leben nahmen.«
Es wird schon etwas dran sein an der behaupteten Verknüpfung, denkt man. Sie hat einen einprägsamen Namen, entlehnt von einem berühmten Goethe-Roman: Werther-Effekt. Doch die jetzigen Meldungen sagen auch, dass sich das Statistische Bundesamt zu einem möglichen Zusammenhang nicht äußern wolle. »Statistiker aus Nordrhein-Westfalen hingegen sahen in den Zahlen, die in ihrem Land ähnlich gestiegen waren, ein deutliches Indiz für den Werther-Effekt.«
Dieser Satz birgt ein Problem. Statistiker mögen ihre Daten sammeln, vergleichen und auch kommentieren – doch sind sie zuständig und kompetent genug, sich zu psychologischen Wechselwirkungen zu äußern? Dafür ist der Werther-Effekt, den Fachleute seit langem diskutieren, zu verwickelt.
Zudem ist es wichtig, sich die Daten genau anzusehen. Für das Jahr 2009 gilt nämlich, dass es vom Februar zum März relativ mehr Suizide als im Spätherbst gab, nämlich eine Steigerung um 12,4 Prozent (von 733 auf 824 Fälle), also etwas mehr als die erwähnten 10,9 Prozent. Unabhängig davon fragt sich, ob dergleichen als »sprunghafter Anstieg« zu werten ist.
Über den Grund solcher Schwankungen lässt sich nicht einmal spekulieren. Ebenso ist nicht genau bekannt, weshalb sich die Zahl der Suizide in den letzten 30 Jahren halbiert hat. Und warum es ein Auf und Ab nach Jahreszeiten gibt – meist mit weniger (!) Selbsttötungen im Herbst und Winter als in anderen Monaten.
Ein Wort noch zu Werther. Nachdem Goethe 1774 seinen bald vielgelesenen Roman »Die Leiden des jungen Werther« veröffentlicht hatte, soll es eine Welle von Selbsttötungen gegeben haben. Viele, so hieß es, zeigten die deutliche Nähe zum Roman. Dabei war es seinerzeit unmöglich, die Zahl und Art der Suizide zweifelsfrei zu erfassen. Der oft depressive Goethe hat selbst einmal über die »Grille des Selbstmords« geschrieben, »die sich in herrlichen Friedenszeiten bei einer müßigen Jugend eingeschlichen hat«. Er registrierte die »große, ja ungeheure Wirkung des Büchleins«, meinte damit aber sicher nicht unbedingt die tödlichen Folgen, sondern besonders die Debatte über seinen Stoff.
Lange danach gab es in vielen Ländern Untersuchungen, die die Kausalkette zwischen öffentlicher Berichterstattung über Suizide und deren Anstieg überprüften. Viele Studien belegten ihn, vor allem nachdem der US-Soziologe David P. Philipps 1994 diese These formuliert hatte. Das war ein Grund dafür, dass einige Jahre später deutsche Mediziner, Fachverbände, Krankenkassen, Kliniken und Kirchen an die Medien appellierten, über Selbsttötungen zurückhaltend zu berichten, wenn überhaupt. Bitte keine Details, keine Dramatisierungen und Spekulationen, keine Jagd nach Fotos.
Viele regionale Aktionen – das Nürnberger Bündnis gegen Depression wurde besonders bekannt – verzeichneten Erfolge. Die Zahl der Tötungen ging zeitweise um etwa 40 Prozent zurück, die der Versuche um 30. Da verstanden Journalisten, dass es gut ist, Fälle nicht aufzubauschen, zumal die nur für Angehörige und Freunde wichtig sind. In diesem Sinn mahnt auch der Deutsche Presserat schon seit 1997 die Medien zu Umsicht und Distanz. »Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände«, so die Presseratsrichtlinie 8.5. Wer sie verletzt, riskiert eine Rüge. Sie trifft meist Boulevardblätter.
Während solche Vorgänge noch leicht zu regeln sind, ist es äußerst schwierig, den Zusammenhang zwischen Medienberichten und Suiziden zu beziffern. Das hat viele Gründe. Erstens ist die wichtigste Quelle, die deutsche Statistik über Freitode, »mit einer Fülle von Unsicherheiten belastet«, so der Leipziger Psychiatrieprofessor Ulrich Hegerl; die tatsächlichen Zahlen können unter und auch über den bisher bekannten liegen.
Für das Statistische Bundesamt räumte Stefan P. Rübenach schon 2007 in einem Aufsatz ein, dass der Fehler nur in eine Richtung geht: Suizide werden nach seiner Erfahrung bei den Zahlen über Todesursachen systematisch unterschätzt. Die Behörden können nämlich längst nicht alle Fälle erfassen, zumal in Deutschland nur sehr zurückhaltend obduziert wird und Leichenschauen oft mangelhaft sind. Zweitens gibt es keine offiziellen Daten über Suizidversuche, die ja für den Zusammenhang ebenso wichtig sind. Drittens lässt sich nicht immer feststellen, ob vor dem selbstgewählten Tod überhaupt Presseberichte zu diesem Thema gelesen und Filme gesehen wurden, die den Plan auslösen oder verstärken, sich umzubringen. Um diese entscheidende Verknüpfung zu klären, machen Hegerl und einige seiner Kollegen dies: »Bei der Anamnese nach Suizidversuchen befragen wir die Betroffenen oft zu Faktoren des Versuchs, auch zu ihrem Medienkonsum.« Erst wenn man darüber Zuverlässiges weiß, lässt sich der Werther-Effekt besser bestimmen.
Zu beachten ist dabei, dass Selbstmordgedanken, Depression, Tod und Sterben von Medien und Gesellschaft immer noch tabuisiert werden, wenn auch weniger stark als früher. Selbst im Internet tauscht man sich dazu nur sparsam aus, wie ein Beitrag der Zeitschrift »MediaPerspektiven« (Heft 9/2010) sagt.
Aus alldem folgt, dass es sehr schwierig ist, den Werther-Effekt nachzuweisen. Dazu müsste es viele verlässliche Daten aus rechtsmedizinischer und psychologischer Sicht geben, ebenso zur Mediennutzung. Anders kann es bei Suiziden Prominenter sein, von denen wohl alle etwas erfahren haben, ebenso bei vielgesehenen Filmen. So soll die sechsteilige ZDF-Serie »Tod eines Schülers« 1981 einen Anstieg an Selbsttötungen unter 15- bis 19-jährigen Schülern um 175 Prozent verursacht haben.
Unmittelbar nach Enkes Freitod, so ist – noch – bei Wikipedia zu lesen, seien »nach Angaben des Psychiatrieprofessors Hegerl viermal so viele Tote« registriert worden. »Ich habe gar keine konkreten Zahlen genannt«, erklärt Hegerl jetzt, »hier hatte ein Journalist Fantasie.«
Von Goethe weiß man, was er gegen düstere Gedanken machte: Er rettete sich durch Schreiben. Die Therapie heute sollte Schweigen sein, das Schweigen der Medien.
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