Mittelmeer wird zum Massengrab
Bei einer Flüchtlingstragödie vor Lampedusa ertrinken mehr als 200 Nordafrikaner
Ausgangspunkt Libyen, Ziel Europa via Lampedusa: Vor etwa drei Tagen in Zuwarah an der libyschen Küste war der 13 Meter lange Kahn gestartet. An Bord bis zu 300 Menschen (darunter auch viele Frauen und Kinder), offenbar zum größten Teil somalische und eritreische Gastarbeiter aus Libyen. Als sich das Boot in maltesischen Hoheitsgewässern, etwa 39 Meilen südwestlich der italienischen Insel Lampedusa befand, gelang es einem der Insassen, ein SOS an die Küstenwache von Malta zu senden. Diese benachrichtigte die Kollegen aus Lampedusa. Was sich danach ereignete, ist noch nicht ganz klar. Das Flüchtlingsboot, das möglicherweise ein Leck hatte, wurde von den Italienern gesichtet; als die Insassen dann aufgenommen werden sollten, kenterte es und die Menschen fielen ins eiskalte Wasser. Wegen der Dunkelheit und des hohen Seeganges konnten nur 48 Menschen gerettet werden. In den darauffolgenden Stunden wurden etwa 20 Leichen geborgen. Die Suche nach möglichen Überlebenden geht natürlich weiter, aber es besteht kaum noch Hoffnung, die Schiffbrüchigen zu bergen.
Inzwischen wurden die Menschen, die gerettet werden konnten, nach Lampedusa gebracht; zwei mussten sofort ärztlich behandelt werden, die anderen wurden in das Auffanglager eingewiesen, das auf der Insel in einer stillgelegten Kaserne eingerichtet wurde. Sollten keine weiteren Überlebenden mehr gefunden werden, so handelt es sich möglicherweise um eine der größten Flüchtlingstragödien, die sich in den letzten Monaten im Mittelmeer ereigneten.
Laura Boldrini, Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR, ist nicht nur verzweifelt, sondern auch indigniert: »Erst Dienstag habe ich vor dem Außenausschuss in der italienischen Abgeordnetenkammer eine bessere Koordinierung zwischen allen im Mittelmeer anwesenden Schiffen gefordert – die der NATO und die der verschiedenen Handelsmarinen eingeschlossen«, erklärte sie. Das sei notwendig, um Menschenleben zu retten. »In einem Moment, in dem im Mittelmeer doch so viele Schiffe kreuzen, ist so ein Schiffbruch sonderbar und es ist absurd, dass diese Menschen so sterben mussten.«
Die Beauftragte der Vereinten Nationen deutete auch an, dass Rettungsboote möglicherweise sogar von den Militärschiffen behindert werden, die in die Operationen vor Libyen eingebunden sind. Und weiter: »Es muss uns klar sein, dass der Flüchtlingsstrom weiter gehen wird und die Boote wahrscheinlich demnächst verstärkt aus Libyen kommen werden. Wir müssen uns beeilen und wir müssen unsere Sache gut machen, um weitere Tragödien zu vermeiden.«
Trotz der vielen Versprechungen der letzten Tage hat sich die Lage auf Lampedusa immer noch nicht wesentlich verbessert. In den letzten Stunden sind wieder etwa 1000 Flüchtlinge auf der Insel gelandet und die vorhandenen Strukturen reichen nicht aus, um sie menschenwürdig aufzunehmen.
Wenn – wie Laura Boldrini vermutet – die Flüchtlingsboote nicht mehr aus Tunesien, sondern vor allem aus Libyen starten werden, könnte die Tragödie vom Mittwochmorgen wirklich nur der Anfang sein. Seite 3
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