Fürst oder Volk – das ist die Frage

Dallmin und Golßen – Schlösser für Ärzte, Lehrer und Kinder

  • Lesedauer: 8 Min.
Schlösser in der DDR, ihre Geschichte und Ihre Geschichten dazu - wir haben Sie um Ihre Erlebnisse gebeten und über 70 Zuschriften erhalten. Danke! Unsere Autorin Burga Kalinowski ist den Spuren gefolgt. Heute Teil 2 unserer dreiteiligen Schlossgeschichten.
1948, Golßen: Die Mitarbeiter des ersten Landambulatoriums in der SBZ/DDR.
1948, Golßen: Die Mitarbeiter des ersten Landambulatoriums in der SBZ/DDR.

Zwischen Dallmin und Postlin in der Prignitz gibt es seit 2008 einen neuen Radweg. Der hat einen sogenannten historischen Punkt. Da steht eine Tafel, und die erinnert daran, dass genau an dieser Stelle Kaiser Wilhelm II. aus der Eisenbahn gestiegen und mit einer Kutsche zu seinem Landwirtschaftsminister Victor von Podbielski auf Schloss Dallmin gefahren ist. Wir sollten uns tief verneigen. Und wo, mit Verlaub, hat der Kaiser denn gepupst? Das will man doch wissen. Ebenfalls 2008 gab es in der Region eine Ausstellung, auf der nun (endlich?) die Courschleppe (eine Art Abendmantel) der Frau Podbielski zu besichtigen war. Ein höfisches Event gewissermaßen. So erinnert man an die schönen Gutsbesitzerzeiten. Den Podbielskis gehörten übrigens mehrere Güter in der Westprignitz. 1945 war es damit im Osten erstmal vorbei. Auch Gut Dallmin wurde durch das Gesetz zur Bodenreform enteignet. In der späteren DDR wurde das Schloss ein Heim für elternlose und verhaltengestörte Kinder. Das ist es heute immer noch – oder wieder. Auch ganz am Anfang der neuen Zeiten ging es um Kinder, genauer: um die Ausbildung junger und engagierter Lehrer für ein neues Bildungswesen.

Zwei Briefe liegen vor mir. Gertrud Schönig, Lehrerin aus Potsdam, und Professor Reinhard Bolz, Lehrer und Erziehungswissenschaftler aus Erfurt, schreiben, wie sie zu ihren Berufen kamen und wo es angefangen hat.

Es ist – natürlich – Dallmin. Es ist 64 Jahre her. Es ist ein Zufall, der keiner war. Die Welt ist ein Dorf: Beide waren 1947/48 zum Neulehrerkursus im Schloss Dallmin. Sie saßen auf einer Bank. Sie haben sich seit zig Jahren nicht gesehen. Damals waren sie ein Paar. Jetzt haben sie miteinander telefoniert.

Weißt du noch? Die Frage, die zaubern kann. Sie gibt der Vergangenheit Farbe und Geschmack zurück, Gedanken und Gefühle von damals.

»In Dallmin hat sich mein Lebensweg entschieden«, schreibt Gertrud Schönig. Sie, ihre Freundin Christel und ein riesengroßer Überseekoffer stehen am 21. Oktober 1947 am Dorfeingang. Die Dorfstraße hört nicht auf, und der Koffer wird immer schwerer. Das Schloss ist am Ende auch nur ein Haus, wenngleich 1567 als Rittersitz im Renaissancestil erbaut, seither mehrmals umgebaut, zuletzt 1899 innen auf Neorenaissance umgestaltet, wahrscheinlich auf Weisung von Podbielski. Bei der Übernahme 1945/46 durch die Länderverwaltung war der Bau allerdings völlig freigezogen. Da bleiben nur Vermutungen, wo das Interieur abgeblieben ist. Geblieben ist bis heute die breite Treppe mit prächtigem geschnitzten Geländer. Mit elegantem Schwung führte die Treppe hoch zur holzgetäfelten Bibliothek. Die ist unverändert, nur der Flügel fehlt. Sie weckt bei Frau Schönig Erinnerungen an einen Maskenball, an Musik, spontane Tanzabende, Lachen, Liebeleien und Lernen. »Wir waren eine richtig gute Truppe. Alle sind Lehrer geworden, haben weiter studiert, promoviert, sind Professoren. Und manche sind noch miteinander verheiratet.«

Reinhard Bolz kommt nach dem Krieg bei Verwandten in Bielefeld unter, arbeitet für 42 Pfennige die Stunde beim Engländer und will unbedingt Lehrer werden. Sein Vater liest von den Neulehrerkursen und holt seinen Sohn in den Osten, nach Putlitz in der Prignitz. Reinhard Bolz ist 18 Jahre.

»Entscheidend für mich war, dass ich das im Westen beim besten Wollen nicht hätte machen können. Wenn heute davon geredet wird, dass die sozial Benachteiligten kaum Chancen haben, auf das Gymnasium zu kommen, dann ist das nur das erweiterte Prinzip, das ich damals im Westen persönlich erlebt habe.«

Zum Lehrgang kam er mit zwei Tagen Verspätung. »Es war 20 Uhr, und ich habe erstmal meinen Strohsack gestopft.«

Am nächsten Morgen ging der Unterricht los. »Wir haben verdammt hart gearbeitet. Gucken Sie, das ist meine Mappe von damals, das sind meine Aufzeichnungen von damals. Was haben wir geschuftet, bis spät abends gesessen ... Von der Konsum-Verkaufsstelle in Putlitz bekam ich ein altes Rechnungsbuch, damit ich wenigstens Papier hatte und meine Aufzeichnungen machen konnte. Das kann heute keiner mehr verstehen. Das hat uns für das ganze Leben geprägt«.

Reinhard Bolz lernt in Putlitz auch einen KPD-Funktionär kennen, den die Nazis verprügelt und gefoltert hatten. Er trägt politische Verantwortung im Ort. Der Alte und der Junge spielen oft Schach miteinander. »Er hieß Peter Maleska, glaube ich. Er ist dann Anfang der 50er gestorben, an den Folgen der Nazi-Folter. Er war von einer solchen Herzensgüte, obwohl er so Schlimmes erfahren hat ... diese Bekanntschaft mit ihm hat bei mir so eine innere Verpflichtung hervorgerufen, dass ich mir sagte: Du kannst dich nicht abseits stellen.«

Lebensentscheidungen aus Erfahrungen, Nachdenken und Empathie, die heute ins politische Zwielicht geraten. »Ja. Ich weiß, was in Kampagnen alles losgetreten werden kann. Ich habe es nicht als Unrecht erlebt. Und wenn es das gegeben hat – mag alles sein –, aber da bin ich zurückhaltend im Urteil und weiß, welche Absichten heute verfolgt werden.« Welche vermutet er denn? »Alles das schlecht zu reden, was positiv war, und sei es ein Gesetzbuch der Arbeit, das es gegeben hat. Das ist dann ein kommandiertes Gesetzeswerk. Das ist keine neue Methode. Aber es gibt noch Leute, die es erlebt haben. Die erzählen es ihren Enkeln. So bleibt es im Gedächtnis. Dass ich seit 1947 eine Perspektive hatte und die Chance genutzt habe, das ist für mich das Entscheidende.« Diese Schwarz-Weiß-Malerei mache ihn zornig. Aber vielleicht haben die es nötig – wer weiß.

Der Weg vom Bahnhof Golßen zum Schloss Golßen zieht sich hin. Da freut man sich über unvermutete gesprächige Begleitung. Die Frau mit Fahrrad wundert sich über mein Interesse für das Schloss. »Dieser alte Kasten?« Ja, der Park sei schön. Nein, sie wisse nichts Genaues über Schloss und die Ländereien, außer dass es Streitereien gäbe. Wie immer, wenn die sogenannten besseren Leute den Hals nicht vollkriegen. Mal heißt es, die Fürsten bekämen alles zurück, dann wieder nicht. Wegen ihr könnten die ganz wegbleiben. Und was wollen Sie hier, fragt sie mich. Darüber schreiben. »Aha«, sagt sie. »Da bin ich aber neugierig.« Und Nein, ihren Namen sage sie nicht. Sie nickt kurz und radelt davon.

Golßen. Monika Joost aus Gotha hat ihre Erlebnisse mit dem Schloss aufgeschrieben und mir Dr. Michael Bock als Gesprächspartner empfohlen. Er ist Zahnarzt, seit Anfang der 80er CDU-Mitglied, ein Kenner und Liebhaber der Schloss- und Stadtgeschichte.

Das Schloss – ein Baustein ihrer Kindheitserinnerungen, steht leer und verödet. Sie hat große Räume, Kamine mit schönen historischen Kacheln aus Velten, einen kinderfreundlich verwilderten Park vor Augen, denkt gern an Schlittschuhlaufen auf dem künstlich angelegten Teich und an Sommerfeste im Park. Schade, dass die Anlage nun verwaist. Hier ging sie im Herbst 1945 mit anderen Flüchtlingskindern zum Unterricht, weil die städtische Schule mittlerweile überfüllt war.

September 1945 – der Krieg ist gerade vorbei. Der Menschenstrom aus dem Osten nimmt kein Ende, sucht sich Wege, Plätze und Platz auch in Golßen. Wo die Flüchtlinge alle unterbringen, wie versorgen mit Nahrung, Bildung, medizinischer Hilfe? Die Einwohnerzahl schnellt in der Nachkriegszeit auf ca. 5000 hoch. Heute sind es rund 2000. Das Schloss, groß und intakt genug, wird Flüchtlingsheim, Schule und 1948 zum ersten Landambulatorium der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), 1949 dann DDR, um die medizinische Versorgung der Landbevölkerung zu sichern. Die Poliklinik »Dr. Herbert Baer«, die später noch eine Entbindungsstation bekommen wird, auf der 2000 Kinder geboren werden, trägt den Namen eines jüdischen Arztes, der 1936 im spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden kämpfte. Vielleicht hat ihn dort Arnold Friedrich Vieth von Golßenau kennen gelernt, dessen Vorfahr Vieth 1730 das barocke Herrenhaus in Golßen bauen ließ und der als Vieth von Golßenau in den Adelsstand erhoben wurde. Knapp 200 Jahre später, nach den Erlebnissen des Ersten Weltkriegs, trennt sich der Nachfahre von seiner adligen Verwandschaft, verzichtet ohne Bedauern auf eine Offizierskarriere und macht sich als Schriftsteller einen Namen – Ludwig Renn.

1844 gerät das Schloss an die Herrschaft Solms-Baruth. Der Berliner Architekt Knobelsdorff wird beauftragt, das Herrenhaus neu zu gestalten. Knobelsdorff überformt den Bau mit klassizistischen Elementen, aus dem Garten wird ein englischer Landschaftspark. Die Anlage macht Eindruck, spielt aber für ihre Besitzer zunehmend keine Rolle mehr.

1945 werden die Solms-Baruth enteignet, das Schloss, wie beschrieben, neu genutzt, die ca. 15 000 Hektar land-und forstwirtschaftliche Nutzfläche sowie zehn Dörfer gehen unter der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) in das Eigentum des Volkes über. So steht es im Grundbuch in Lübben.

In dieser Region waren die Solms-Baruther die zweitgrößten Landbesitzer, nur die Arnims hatten mehr. Alles links und rechts der Autobahn bis fast an Berlin heran gehörte den jetzigen Fürsten von Solms-Baruth. Jedenfalls war das mal so. Und natürlich hätten sie es gern wieder so. Aber leider ist die Rechtslage unklar und also ungeklärt. Ein weites Feld, würde der alte Briest sagen.

Michael Bock bedauert diesen Zustand. Sorgenvoll betrachtet er die Zeichen des Verfalls am Schloss. Jeder Hausbesitzer kennt solche Verläufe. Die Kommune hat Sorge, das Anwesen in Schuss zu halten. Nutzung wäre gut. Besitzklärung ebenfalls. Doch der Rechtsstreit läuft und läuft und läuft.

»Das Leben geht weiter. Irgendwann wird es sich entscheiden: Fürst oder Volk – das ist die Frage«, sagt Bock. Eine große Frage. Eigentlich eine Epochefrage.

Das Schloss Golßen ist vorläufig dem Verfall preisgegeben.
Das Schloss Golßen ist vorläufig dem Verfall preisgegeben.
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