Mobbing zum Tode?
Zur Seele: Erkundungen mit Schmidbauer
Nichts belegt die Macht des Glaubens mehr als der Tabu- oder Voodoo-Tod. Tabu ist ein polynesisches Wort und hat ähnlich dem lateinischen sacer den Doppelsinn heilig/verflucht. Die Speise eines Häuptlings war in traditionellen polynesischen Kulturen tabu. Wer versehentlich von ihr kostete, bekam je nach dem Grad seines Glaubens und der sozialen Angst, welche ihm die Gemeinschaft vorschrieb, eine Magenverstimmung oder starb.
Der Eingeborene, der sich durch den Tabubruch verhext weiß, kauert sich, von Angst geschüttelt, in einen Winkel und hört nach wenigen Tagen, ja manchmal Stunden auf zu atmen. Er ist aufgrund der Traditionen seiner Gruppe überzeugt, dass er verloren ist. Freunde und Verwandte ziehen sich von ihm zurück. In jeder Geste legt die Gemeinschaft dem Opfer nahe, dass es einerseits ohnehin tot ist, andrerseits aber noch seine Umwelt gefährdet. Endlich setzt der Körper des Opfers dieser Auflösung seiner sozialen Persönlichkeit keinen Widerstand mehr entgegen.
Durch Sondenfütterung und den Einsatz der eisernen Lunge ist es geglückt, einen australischen Eingeborenen in dieser Situation zu retten: Er musste sich überzeugen, dass die Magie des weißen Mannes stärker war als die des Schamanen. Walter B. Cannon, der eine Studie über den Voodoo-Death schrieb, führt ihn auf eine intensive Erregung des sympathischen Nervensystems zurück. Seelisch besonders belastend wirkt diese Alarmreaktion, wenn sich keine körperliche Aktion an sie anschließt. Der Alarm im Körper hat den evolutionären Sinn, ein Maximum an körperlicher Spannkraft für Notfälle bereitzustellen. Den Gefahren seiner Phantasie kann der Mensch aber auf diese Weise nicht entrinnen. Er bräuchte einen stärkeren Heiler, der ihn vor dem Fluch schützt.
Da der Verhexte Essen und Trinken verweigert, kann es rasch zu nicht wiedergutzumachenden Schäden infolge der Verminderung des Blutvolumens kommen. Medizinisch würde man von einem Tod im Schock sprechen. Kreislauf und Atmung versagen. Im Krieg sind mehrmals solche Todesfälle beobachtet worden, vor allem unter Zivilisten, die während eines Bombardements in einem Luftschutzkeller ausharrten, als plötzlich das Licht erlosch und das Krachen der Trümmer betäubend laut wurde. Sie konnten die Panik nicht verarbeiten, verschüttet zu werden.
Die erregten Debatten über die Sterbehilfe wären überflüssig, wenn wir (wie es in vielen Kulturen den Heiligen nachgesagt wird) in der Lage wären, aus reiner Willenskraft zu sterben. Wenn das nicht funktioniert, wachsen angesichts der Möglichkeiten der Intensivmedizin die Fantasien über ein von der Medizintechnik aufgezwungenes, von Schmerz und Scham getränktes Vegetieren. Der Arzt wird dann zur gnadenlosen Autorität, die den Wunsch zu sterben ähnlich abweist wie ein Militär den Wunsch des Soldaten, die Front zu verlassen.
Kein Mensch ist Herr über Leben und Tod. Aber manche sind mächtiger als andere. Jüngst hat der deutsche Ärztetag nach einer kontroversen Debatte die Formulierungen noch einmal verschärft, welche Medizinern verbieten, sterbenswillige Kranke zu unterstützen.
In Holland hat der Gesetzgeber den Willen einer Bevölkerungsmehrheit übernommen, die auch in Deutschland nach Umfrage-Ergebnissen eine kontrollierte Sterbehilfe befürwortet. Es gab nach der Lockerung der Verbote keine Häufung von Suiziden. Warum ist der Gesetzgeber dort weniger rigoros? Vielleicht liegt es daran, dass Holländer und Belgier mehr darauf vertrauen, dass Menschen aus Freude und Hoffnung am Leben bleiben. Hoffnungslos Kranke können dann Trost in einem offenen Gespräch über ihre Todeswünsche finden, das die deutsche Regelung erschwert.
In Deutschland dominieren in den Aussagen der Experten die Ängste, dass Scharen von Menschen aus dem Leben desertieren oder gar von Angehörigen aus ihm vertrieben werden, wenn den Ärzten nicht strikt verboten wird, in diesem Bereich ihrem Gewissen zu folgen. Ich kann nicht anders, als die Ursache dafür in den stärker verwurzelten militaristischen und autoritären Traditionen unserer Kultur zu sehen.
Angesichts der Militärtribunale, die Soldaten hinrichten ließen, weil sie ihren »Heimatschuss« nicht dem Feind, sondern der eigenen Hand verdankten, ist das deutlicher als im Grenzgebiet der Palliativmedizin. Eine militärische Führung, die sich angesichts des Deserteurs keine Gedanken über ihr eigenes Versagen macht, würden wir heute kritisieren. Eine Medizin, die mit verbaler Härte gegen Ärzte vorgeht, die nicht von vornherein zu wissen glauben, dass sterbewillige Kranke nur noch nicht intensiv genug behandelt worden sind, kann sich besser hinter hohen Idealen verbergen. Demokratischer wäre es, der Menschlichkeit der Laien zu vertrauen. Nichts spricht dafür, dass das Mobbing Pflegebedürftiger in den Tod um sich greifen wird, wenn Ärzte nicht mehr Dämme bauen und Juristen Bollwerke halten.
Ich traue es mündigen Bürgern zu, im Gespräch würdige Lösungen zu finden, sich nach allen Seiten zu öffnen und sich angstfrei in dem Zwischenreich von Leben und Tod zu orientieren. Einzelne sind damit überfordert. Aufeinander einfühlend bezogene Menschen hingegen können Lösungen finden – für sich, für ihre Angehörigen, für die Experten. Ihnen solche Lösungen zu kommandieren, schadet mehr, als es nützen kann.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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