Unterm harten Gesetz der Weichen

Heute wird der Dokumentarfilmer und Maler Jürgen Böttcher (Strawalde) 80

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.
So wie dieses Foto aus dem Film »Rangierer« die Sommer-Einstellung unseres Gemüts stört, so störten seine Filme den Soll-Auftrag für künstlerische Abbilder der Arbeiterklasse.

Vielleicht darf etwas ungenau gesagt werden: Der Dokumentarfilmer Jürgen Böttcher ging filmisch der Literatur eines Wolfgang Hilbig voraus: diesen DDR-Bildern, in denen »die Abwesenheit erblühte« (Uwe Kolbe), die Abwesenheit jener freiwilligen Blindheit gegenüber dem brüchigen Neubau Welt. Aber, im Gegensatz zu Hilbig will das Leben in den Filmen Böttchers noch gut wegkommen. Das heißt, so der Regisseur selbst: »Wunder sind in kleinsten Ecken zu finden.«

Schwer arbeitende Menschen als sehr inständig beobachtete Einmaligkeit. Böttchers Wäscherinnen, seine Ofenbauer, seine Martha (die letzte Trümmerfrau): Er hat sie nicht schlechthin porträtiert, er hat ihnen gehuldigt. Nicht privatim, sondern im Sinne einer geschichtsphilosophischen Metapher: Arbeit nicht als homerische Anrufung des Menschen – nein, leb und schweig, so entsteht Würde. Leb und schweig dich durch die Monotonie der Existenz, so nur hält sich Würde. Kunst ist dann nur die andere Seite des Schweigens. Stille, aber doch »das schreiende amt«, von dem der Dichter Hilbig schrieb.

Der Staat hat den Regisseur Böttcher an dessen Sehnsucht gehindert, Spielfilme zu drehen (»Jahrgang 45« wird 1965 Zensuropfer), so aber kam die DDR wenigstens zu einigen ihrer besten Dokumentarfilme. Begonnen hatte Böttcher als Maler, er studierte an der Dresdner Kunstakademie. Die Malerei wurde quasi sein Exil aus der öden Diktat- und Verordnungslage beim Film. Was er malte, es sieht aus wie ein gieriges, ein so befreites wie doch auch trauriges Atemholen im Reich der vielen Meister vor ihm und also der vielen Möglichkeiten, Außenseitersein zu leben. Der Einsame, der aber in der freiwillig gewählten anderen Welt keine Berührung mit Vor-Bildern scheut. Handschrift, die nicht aussendet, sondern eher Empfängnis bleibt. Bilder, die farbenvoll in sich hineinschweigen. Als erfülle alles Grau sich in dieser Farbigkeit, als dränge alles Farbige zum Adel Grau. Wie die Filme. Bilder, die also jener Schwierigkeit des Malers, mit Welt klar zu kommen, mitten im Trost doch nur immer neue Nahrung geben. Kein Künstler arbeitet sich frei.

In diesem Talent des Malenden nannte sich Böttcher nunmehr Strawalde. So heißt ein Dorf in der Oberlausitz, dort – »in der Kindheit geschah das ganze Leben« – wuchs er auf. In einem Interview »Zur Person« bei Günter Gaus hat er davon erzählt: wäldlerisch, als wohne im Maler und Filmemacher ein Holzfäller (starke Hände!), und als kämen die Erzählungen dieses Lebens aus der freien Natur. Selten sah man bei Gaus einen Menschen so über die Mutter, den Vater reden. »Wenn mir was Schönes passiert, denke ich an meine Eltern.«

Der 17-Jährige ging in die SED, weil er »wiedergutmachen« wollte. Das Jungvolk-Trauma, die bittere Scham, (fast) ein Feldzug-Deutscher gewesen zu sein. »Ich komme aus einer Mördergrube.« Selbstbewusstsein und Kraft sogen ihre Nahrung aus unbändigem Reuewillen. »Verrücktheit« nennt er das. Die DDR hat ihn später »beleidigt, da war so viel Ungeheuerliches«, aber nie wäre er auf die Idee gekommen, in den Westen zu gehen, »wo die IG Farben herrschen«. Da war wohl ein innerer Trieb gen Osten. Dorthin, wo das Leid groß und größer ist und das Begehren nach Sündertum auch, seit jeher. Einen Dostojewski konnte es nur in Russland geben.

War's ein gutes Leben im Sozialismus? Pause damals bei Gaus. In der Antwort kam das Wort »beschissen« vor, aber es wurde besiegt durch ein bedachtes: »Doch, doch.« Dieser Großversuch sei doch ständig der Umklammerung durch einen kapitalistischen Gegner ausgesetzt gewesen, von Beginn an. Grausam. Hoffnungslos. Man lese Babels »Reiterarmee«. Jetzt, im neuen Europa, sei »alles zurückgesetzt in ein altes System, aufpoliert als liberal«. Er fühlt sich als Teil einer gescheiterten Generation. Es blieb diese »grauenhafte« Ohnmacht – jetzt gegenüber dem Markt, dessen »Vergewaltigungscharakter«.

Wenn man Böttchers Filme heute sieht – auch die gegen den Terror in Chile, die Beobachtungen beim Bau des Berliner Marx-Engels-Monumentes –, halten sie immer etwas unter Verschluss. Auch die Arbeiterporträts tun das. Als wollten sie, in ihrer Schwerkraft, doch etwas Schwebendes retten. Als wüssten sie: Leben braucht Protektion. Nur alles Elend ist von selbst. Also klammern wir uns an dessen Gegenteil. An Sinn. Der freilich ist nicht von selbst.

Und weil das so ist, sind Böttcher und Strawalde nie Dissidenten gewesen, der Mann war, filmend, mehr: ein Träumer, einer, der sich mit der listigen Souveränität des Schüchternen ins Bild der rüden Wirklichkeit rückte. Selbststilisierung als Eigen-Macht. Es gibt – 1986 filmte Böttcher »In Georgien« – von dort ein Bild, das er in die Kamera hält: eine Ikone. Irgendwie gleichen sich die Gesichter. Des Regisseurs Kurzschluss mit der Gläubigkeit: Realität kann man so zeigen, dass sie überspringbar, steigerbar wird.

Rangieren lernen. Das Wort liegt aus gutem Grunde im Klanggebiet des Arrangierens – das Gesetz der Weichen ist stahlhart. Jürgen Böttcher, der nun achtzig ist, hat sich durchaus auch, nach Maßgabe seiner Gewissenskraft, arrangiert. Hat in der Welt der Weichen, die Freiheit oder Falle sein können, wohl rangiert. Hat Fahrt gesucht, hat die Strecke gefunden in ein Werk von Rang.

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