Eigensinn – wider des Staates Raison

Kleist-Jahr 2011: Adolf Dresen über seinen »Kohlhaas« in der DDR

  • Lesedauer: 5 Min.
Am kommenden Montag jährt sich zum zehnten Mal der Todestag des Regisseurs Adolf Dresen. Ein großer Theatermensch des 20. Jahrhunderts. Einer der klügsten, ich denke vor allem: menschlichsten und freundlichsten Regisseure des Deutschen Theaters. Bestimmt dazu, ein Fremder immer dort zu werden, wo er hingehören wollte. Wenn man über Dresen redet, muss man über unverzeihliche Verluste reden, die sich die Bühnenkunst durch Entfernung von ihm selbst zufügte. Erst der Bühnenbetrieb der DDR, dann der im Westen. Sein Antrieb für die Kunstausübung war das Vertrauen in einen gemeinsamen Sinn, Theater zu betreiben – stets suchte er diesen Sinn in der Welt, nicht im Theater. Adolf Dresen, geboren 1935 in Eggesin, durch die Schule des Studiums ebenso gegangen wie durch die Schule der Strafexpeditionen in die Produktion, ist ein begnadeter Provinzmensch geblieben. Aber immer jene Spur zu weltoffen, die zwangsläufig in Enttäuschungen führen musste. Immer jene Spur zu ehrlich und hartnäckig, die einsam machen kann. Ans Deutsche Theater Berlin war er nach einer verbotenen »Hamlet«-Inszenierung 1964 in Greifswald gekommen. Er verließ die DDR, 1977. Ein Trauriger, aber doch nach wie vor ein Suchender. Dresen entkam im Westen dem Osten, aber nicht Deutschland, wo »dem Materialismus der Massen stets die Verstiegenheit der Intelligenz« entsprach. Er starb 2001 im Alter von 66 Jahren. Er schrieb: »Wenn eure Rechnungen aufgegangen sind, stehe ich noch immer da, blöde wie ich bin/ Meine stupide Existenz lähmt eure Elektronengehirne/ Ich bin der grinsende Fehler in jedem Resultat.«

Im Kleist-Jahr und zu Dresens Todestag: ein Text des Regisseurs, geschrieben nach dem Ende der DDR, für den Schauspieler Kurt Böwe. hds

Mitte der siebziger Jahre arbeitete ich am Deutschen Theater an einigen Kleist-Aufführungen. Sie wurden eröffnet durch eine Collage ‚Dichter in Preußen (von Babu Honigmann) – da war zu sehen, dass die schlimme Lage der Dichter in Preußen der unseren in der DDR recht ähnlich war. Es war die erste Belastungsprobe für den neuen Intendanten, Gerhard Wolfram: Würde er das mitmachen? Natürlich wurde nicht offen gesprochen; aber – und das vergisst man heute gern – unsere Opposition richtete sich auch nicht gegen das, was wir unter Sozialismus verstanden. Der Westen war für uns keine Alternative. Und für eine Opposition von innen gab es einigen Spielraum. Ich habe sogar erlebt, dass Leute der Bezirksleitung der SED, sogar des ZK uns zwar offen kritisierten, aber heimlich halfen.

Im »Prinzen von Homburg« erringt ein junger Heerführer einen Sieg durch Bruch des Befehls – das rührte an die Grundfesten der DDR-Staatsraison: Muss nicht jeder Geniale die geltende Disziplin verletzen, und ist das nicht die Bedingung allen Fortschritts? Die Meinung des preußischen Regenten, des Kurfürsten, ließ sich in einem Satz Friedrich Engels' zusammenfassen, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit; wir akzeptierten diesen Satz mit der Bedingung: insofern die Notwendigkeit ein Einsehen in die Freiheit hat. Wir konnten das damals sogar öffentlich sagen.

Im »Zerbrochnen Krug«, mit »Homburg« an einem Abend gespielt, ging es um Ähnliches – nur wurde die Raison da nicht von einem Genialen verletzt, sondern von einem offenbar Unfähigen; wir versahen diesen Dorfrichter Adam (Dieter Franke) aber mit soviel Sympathie, dass seine schließliche Flucht erschien wie eine Vertreibung aus dem Paradies, und dass die Beseitigung der bestehenden Korruption, Einführung der preußischen Ordnung durch den herbeieilenden Gerichtsrat Walter (Dietrich Körner) eher wehmütig stimmte – man erinnerte sich des Worts von Brecht aus den ‚Flüchtlingsgesprächen, wonach in schlampigen Regimen doch immer noch einiges an Menschlichkeit durchgegangen sei.

Die Kleist-Aufführungen kamen, anders als der »Faust« einige Jahre zuvor, politisch unbehelligt heraus – und so konnten wir darangehn, sie mit dem Abend zu beschließen, der der politisch brisanteste sein würde, einer eigenen Dramatisierung der Kleist-Novelle von Michael Kohlhaas.

Die Zeit, von der hier die Rede ist, war kritisch. Biermann hatte zu einem Konzert in Köln die Ausreise aus der DDR bekommen und durfte nicht mehr zurück. In diesen Tagen schien es, als ob sich fast jeder Kleist-Satz gegen die DDR richte.

Ich sehe Kurt Böwe als Kohlhaas auf der Bühne. Auf dem tiefsten Punkt der Verzweiflung bleibt ihm schließlich nichts anderes übrig, als schlechthin alles zu ändern. Höflich, mit höchstem Respekt begegnete er in einer glänzend gespielten Szene dem über alles verehrten Doktor Martin Luther (Horst Hiemer) – in dieser Szene schien damals meine persönliche Situation zusammengefasst, vielleicht auch die vieler anderer.

»Weiche fern hinweg!«, empfing Luther den nächtlichen Eindringling und eilte nach der Klingel, »dein Odem ist Pest und deine Nähe Verderben!« Kohlhaas, ohne sich von seinem Platz zu rühren, mit einem Griff nach dem Gürtel: »Hochwürdiger Herr, dies Pistol, wenn Ihr die Klingel rührt, streckt mich leblos zu Euren Füßen nieder.« Luther, nach einer Pause: »Wer gab dir das Recht, den Junker von Tronka, in Verfolg eigenmächtiger Rechtsschlüsse, zu überfallen, und da du ihn auf seiner Burg nicht fandst, mit Feuer und Schwert die ganze Gemeinschaft heimzusuchen, die ihn beschirmt?«

Kohlhaas, den Hut ehrerbietig in der Hand: aus einer Gemeinschaft, die ihm das Recht verweigere, müsse er sich verstoßen fühlen. »Verstoßen nenne ich den, dem der Schutz des Gesetzes versagt ist! Denn dieses Schutzes, zum Gedeihen meines friedlichen Gewerbes, bedarf ich; ja, er ist es, dessenhalb ich mich, mit dem Kreis dessen, was ich erworben, in diese Gemeinschaft flüchte; und wer mir ihn versagt, der stößt mich zu den Wilden der Einöde hinaus; er gibt mir, wie wollt Ihr das leugnen, die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand.«

Luther, auffahrend: »Wer hat dir den Schutz der Gesetze versagt«?, und er gab Schluderigkeiten, Vergesslichkeiten, Unabsichtlichkeiten, Zufällen aller Art, doch keinem Menschen Schuld an der entstandenen Situation; er gestand ihm aber schließlich zu, mit dem Kurfürsten seinetwegen in Unterhandlung treten zu wollen.

Da beugte Kohlhaas, entlassen, plötzlich vor Luther das Knie: er habe zu Pfingsten, wo er sonst an den Tisch des Herrn zu gehen pflege, seiner kriegerischen Unternehmung wegen die Kirche versäumt; ob er die Gewogenheit haben wolle, ohne weitere Vorbereitung seine Beichte zu empfangen und ihm die Wohltat des heiligen Sakraments zu erteilen. »Ja, Kohlhaas«, antwortete Luther, »das will ich tun!,« und, indem er ihn scharf ansah: »Der Herr aber, dessen Leib du begehrst, vergab seinem Feind.« Und da Kohlhaas betreten zu Boden sah, fuhr er fort: »Willst du dem Junker, der dich beleidigt hat, gleichfalls vergeben?«

Bescheiden, fast stotternd, mit leisester Stimme, lehnte Kohlhaas Luthers Vorschlag ab und wurde von diesem in Ungnade entlassen.

Es war der eindruckvollste Moment, in dem ich Kurt Böwe auf der Bühne gesehen habe, ein Moment der Verlassenheit, der Verzweiflung, der vollkommensten Ausgesetztheit. Ein frommer Mann verzichtete da auf das Höchste, das es für ihn gibt. Kurt Böwe kannte diesen Moment, so wie auch ich ihn kannte. Es war ein Moment, wie er auch von Luther selbst überliefert ist: Hier stehe ich und kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.

Der »Kohlhaas« war meine letzte Arbeit am Deutschen Theater, ich verließ wenig später die DDR.

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