Ein Theater-König als Kaiser: »Aus!«

Kleist-Jahr: »Das Käthchen von Heilbronn«, Regie: Dieter Dorn – Ende einer großen deutschen Theater-Ära in München

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Dieter Dorn zu Beginn der »Käthchen«-Inszenierung: Aus dem Nebel kommend, beschirmt von der Gestalt des Cherubim, wird er die Seinen gleich ins Spiel rufen.
Dieter Dorn zu Beginn der »Käthchen«-Inszenierung: Aus dem Nebel kommend, beschirmt von der Gestalt des Cherubim, wird er die Seinen gleich ins Spiel rufen.

Sie wirft sich in jeden Staub, um nur schmutzfreier denn je zu leuchten. Der gefährlichste, gefährdetste Mensch der Welt: Er glaubt. Ein Engel wies ihr den Weg zum Ritter vom Strahl, er wird ihr gehören, da kann er sie noch so verletzen, wegwerfen. Der Ritter hatte auch einen Traum: Er wird eine Kaiserstochter freien, nicht dieses Käthchen. Noch weiß keiner, dass Käthchen diese Tochter ist. Zwei Träumer mit gleichem Ziel, sie wissen es nicht. Tragödie, Komödie, Märchen. Krieg und eine lange Irrenszeit bis zum Frieden.

Kleists »Das Käthchen von Heilbronn« erzählt das Schwerste in der Welt: sich mit ganz eigenem Ton in die Stimmgabel des Seins einzuschwingen. Den Weg in ein Paradies mit dauerndem Gefühl gehen zu müssen, verflucht zu sein. Aber ihn doch zu gehen.

Mit diesem Stück ging am Wochenende in München die Ära von Dieter Dorn zu Ende: Leiter der Kammerspiele (ab 1983), dann des Bayerischen Staatsschauspiels. Beides mit einem großartig gewachsenen Ensemble. Seine Regie formt Stücke weniger, Dorn begleitet sie, treu, aber nicht begehrend. Er gleicht Theater nicht der grausigen Welt an, er nimmt es in Schutz vor ihr. Eine feste Burg ist unser Stadttheater. Leben? Schweben. Im besten Sinne. Konsequent konventionell und somit schon wieder spektakulär. Kühn behäbig auch, und aufreizend betulich mitunter.

»Käthchen«, wie fast immer im Bühnenbild von Jürgen Rose inszeniert: Fast fünf Stunden lang – kein Kleist-Komma gestrichen – wirft sich Dorn noch einmal ins Kinderfest, hold und heftig, erhaben und derb; Herzen flammen, Pappe kracht. Es brennt, donnert, blitzt, nebelt, Schwerter klirren, Rüstungen klappern, Pferdeattrappen jagen, die Burg bricht in schwelende Trümmer. Es ist zum Lachen. Zum Staunen. Unschuld des Spiels. Künstlichkeit der Kunst. Es raunt und rumpelt. In der Vorstellung, die hier zur Beobachtung steht, hatte selbst die große technische Panne ihren Auftritt.

Aber: Bei Käthchens und des Ritters Weh und Weihe ist alles in Dorns wärmender, herzensgütig leitender Hand. Berührend also, sehr berührend – mit einer bezaubernd unbeirrten, wundwilden (Großereignis Augen!) Lucy Wirth als Käthchen und einem lax lauteren, sympathisch verwirrten und unglücklich genervten Großjungen Felix Rech als Wetter vom Strahl.

Schluss einer Ära. Ein München-Ereignis. Nach 1990 sagte Gregor Gysi, die deutsche Einheit sei erst vollendet, wenn etwa der Sassnitzer im Denken auch »die unbekannte Oma in Passau« mitfühle. In diesem Sinne passt das Ende des Dorn-Theaters sehr zu dem, was speziell Ostdeutsche empfanden, als genau vor zehn Jahren, mit dem Abschied des Intendanten Thomas Langhoff (einem Freund Dorns!), die Zeit des alten Deutschen Theaters Berlin endete. Parallelen.

Wenn ein Ensemble konkret aus der Welt geht, stimmt Max Reinhardts Satz von der Unsterblichkeit des Theaters überhaupt nicht mehr. Denn da stirbt etwas. Wir sagen kokett: Der Vergehensmoment sei Teil der Einzigartigkeit von Bühnenkunst. Plötzlich durchleiden wir die ganze Wahrheit: Es ist ihr schlimmster Teil. Und irgendwann wird die Erinnerung der Zuschauenden sogar übermächtiger als die Wahrnehmungskraft für jene, die als Nachfolger anrücken. Man schaut dann durch die neuen Gesichter hindurch weiter auf die liebgewordenen Gesichter von damals. Auch wenn sie gar nicht mehr da sind. Der singende Philosoph Roger Whittaker hat recht: Abschied ist ein scharfes Schwert.

Ein Theater-Ende als existenzielles Gleichnis: Was als Gegenwart geschieht, das nennen wir abschätzig den Zeitgeist; aber was war, das nennen wir ehrerbietig den Geist einer wahren Zeit. Natürlich. Denn es war unsere Zeit. Leider verstrich sie gnadenlos. Gnadenlos, das ist hier ein wichtiges Wort. So haben wir im rasenden Jetzt stets einen Grund für ein trotziges Weh. Als seien wir selber Unveränderte. Daher hat noch die ehrlichste Trauer im Verhältnis zum Bestehenden etwas Hochmütiges, und Melancholie ist die edelste, mildeste Weise, in der sich Ignoranz gegen die Gegenwart äußert.

So ist auch das Theater der Vergangenheit stets das gloriose. Dorn wie DT: Wurzellosigkeit war ein unbekanntes, Schauspieler ein majestätisches Wort. Es gab die Zärtlichkeit, die Ruhe, die Unerbittlichkeit einer langen, auf lange gewollten Entfaltung. Die Zärtlichkeit kam vom Publikum, die Ruhe vom Zeitbesitz. Die Unerbittlichkeit aber kam von den Regisseuren, die damit freilich auch nichts weniger als Zärtlichkeit ausdrückten. Gegenüber den Dichtern zuallererst.

An alten Wohnhäusern studieren wir bisweilen jene abgeschabten Buchstaben, die an Kolonialwarenläden und Kohlehandlungen erinnern. In der Tilgung solcher Inschriften aus vermeintlich »guter alter Zeit« erkennen wir – wie eben bei einem Abschied à la Dorn – eine Ahnung von der groben Art, mit der auch unser eigenes Dasein eines Tages betrachtet wird: als eine verblassende Spur auf bröckelndem Untergrund. Leider wächst aus solcher Erkenntnis auch eine neue Anmaßung – die nicht weniger unangenehm ist als die Kälte von Abrissexperten: Denn wir reagieren gern aggressiv auf jene, die nun mit neuen Zeichen auftreten. Wo wir uns am heftigsten der Unterstellung widersetzen, wir seien Gestrige, da sind wir's besonders.

Dieter Dorn geht, es kommt – Martin Kušej: der Harte, Böse, Dunkle, der Schutzraumsprengmeister. Schmutz und Poesie als geballte Einheitsladung. Dorns Theater schaute auf zu Dichtern und übersah für uns liebend die Realität. Kušej schaut hinunter zu Dichtern, die auch nur Tote sind, und erspart uns im Blick auf Gespenster nicht die Selbst-Erkenntnis, in grausamer Welt zu leben.

Der neue Intendant kommt mit Thalheimer und Castorf, Calixto Bieito und Kroetz und Fassbinder. Das sagt schon viel. In München nennt man das Residenztheater im Überschwang der Heimeligkeit: »Resi«. Kušej knallt ein Wortspiel raus: Theater als »Reši-stance«, mit Akzent auf seinem kärntner-slowenischen Nachnamen. Voraussehbar: Jeder Großkritiker mit Feinrippgeist wird, ab neuer Spielzeit in München, als Scharfrichter Dauerschichten schieben müssen. Es wird wunderbar. Meisterung des Abonnentenschicksals, das wird sein: Eintritt zahlen zu wollen für eine Reifeprüfung.

Dorn übrigens hält Kušej für den bestmöglichen Nachfolger. Im »Käthchen« tritt der alte Intendant beginns auf, hinten weiß gestrichene Brandmauern (Schminke gegen die nackte Wirklichkeit) – er winkt wie ein Gott die Spieler aus den Seitengassen, sie steigen in ihre Kostüme. Später ist Münchens Theater-König Kleists Kaiser, hat wunderschön selbstironische Deklamierens-Momente, und als in der letzten, der Hochzeits-Szene, schon wieder Streit aufzufackeln droht, da baut er sich, die Hände ausbreitend, vor der Truppe auf und ruft das abschließende Macht-Wort, das alles endigende Ohnmachts-Wort: »Aus!« Aus.

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