Nächte in Lodz und Bangkok

Juli Zeh, Thomas Brussig und andere Autoren hatten »Reisehits« im Ohr

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Theo, wir fahr'n nach Lodz!« – tönte Vicky Leandros in den Siebzigern von den Bildschirmen, und unsereins fragte sich, was die Griechin wohl in der polnischen Industriestadt wollte. Wie sie sich im Scheinwerferlicht als Bauernmädchen gerierte – »nur Heu und Torf« – war wohl, vom Westen her betrachtet, Exotik. Nun erzählt uns Juli Zeh, dass das Lied eigentlich »Itzek, komm mit nach Lodz« heißt. Womit die städtischen Juden im 19. Jahrhundert spöttisch auf die Zuzügler aus den Dörfern reagierten, weiß Wikipedia hinzuzufügen.

»Dann fahr doch!«, sagt Juli Zeh und schickt Theo los. Wie mag er die Stadt wohl erlebt haben, damals und heute? Mit ihrem »Freund F.« zusammen führt Juli Zeh von zu Hause aus Reiseregie. Aber so, wie sie den Text geschrieben hat, glaubt man ihr durchaus, dass sie sich auch selbst in den Zug setzte, im Dunkeln durch das alte Ghetto stolperte und in einem Kellergewölbe landete, wo »ein Mädchen, kaum größer als ein Hydrant, ... mit großer Stimme die Nacht zum Schmelzen« brachte und ihr die Ahnung eines anderen Lebens dämmerte. Vielleicht wohnt die Freiheit ja jetzt im Osten?

Die Sehnsucht beim Reisen: einen Mangel zu beheben, der wahrscheinlich gar nicht behebbar ist, weil er in einem selber wurzelt. Ansonsten in begrenztem Lebensumfeld, sucht man für einige Tage das Weite. Für »Theo« war Lodz vielleicht schon sehr fern. Unsereins konnte sich fragen, ob es jenes »Santa Maria« überhaupt gab, das Roland Kaiser in seinem Lied beschwor. Oder fragte sich das nicht, weil es, ob Bangkok oder Paris im Schlager, letztlich alles Fantasielandschaften waren.

Haben Sie Lust auf einen Ausflug dorthin? Der Corso Verlag – den Namen sollte man sich wegen der schönen Bücher merken – und Herausgeberin Dorothée Stöbener machen's möglich. »Reisehits«: Neun Autoren waren eingeladen, sich von »Ohrwürmern den Weg weisen« zu lassen. Weil ihm »West Coast of Clare« schon zu DDR-Zeiten gefiel, reiste Christoph Dieckmann nach Irland. Thomas Brussig summte »One Night in Bangkok« vor sich hin, den berühmten Song aus dem Musical »Chess« und zwang sich, im Bangkok Chess Club nur an Damen aus Holz zu denken. Gregor Hens ließ sich eine Geschichte einfallen, in der ein kranker Onkel sich noch einmal ins »Hotel California« wünscht. Aber wo mag das sein? Welches Hotel haben die »Eagles« wirklich gemeint? Steht es in Kalifornien, wo man es zunächst vermutet, oder doch in Todos Santos, Mexiko? Letzteres allerdings ist im Umbau begriffen, erzählt Gregor Hens .

Wie es auch die berühmte Pennsylvania Station in New York so nicht mehr gibt, die Glen Miller in seinem »Chattanooga Choo Choo« besang. Nach Chattanooga fahren heute nur noch Güterzüge. In Atlanta muss man sich einen Mietwagen nehmen, wie Ulrich Stock erlebte, dann kann man sogar im »Chattanooga Choo Choo Holiday Inn« übernachten, sofern einen der Chattanooga-Sound nicht stört, der dort von früh bis spät aus den Lautsprechern dröhnt.

Wer reist, kann was erleben, auch wenn nur selten das, was er erwartet hat. So könnte das Resümee der unterhaltsamen Texte lauten. Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, auf Hiddensee jenen Micha zu finden, der in Nina Hagens »Du hast den Farbfilm vergessen« der geliebte Angeklagte ist. Trotzdem war der Insel-Aufenthalt im Januar für Evelin Finger interessant. Worauf man sich verlassen kann: Es kommt immer anders, als man denkt. Im »Taxi nach Paris« wartet auf Burkhard Strassmann keine Mona Lisa, die ihn küsst und beißt, sondern ein persischer Chauffeur, der einer trotzkistischen Splittergruppe angehört. Und die Schönen von »Mendocino« (von Michael Holm 1969 besungen) haben Tomas Niederberghaus eher Angst gemacht – besonders Patricia, die ihn überallhin verfolgt. Aber dann gibt es doch noch eine angenehme Überraschung.

Und zu guter Letzt, das, was man im Buch zuallererst sieht: Die Illustrationen von Daniel Matzenbacher machen Spaß, so fantasievoll sind sie.

Dorothée Stöbener: Reisehits. Wenn Ohrwürmer den Weg weisen. Corso Verlag. 113 S., geb., 19,90 €.

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