Doch keine Urkatastrophe?

Der Gefreite Hitler im Ersten Weltkrieg – Mythos und Wahrheit

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie verhielt sich Hitler während des Ersten Weltkrieges? Was erlebte und tat er? Welche Lügen und Legenden wurden später über diesen Abschnitt in seinem Leben verbreitet? Dies untersucht der in Schottland lehrende Historiker Thomas Weber, ausgewiesen auch als Mitarbeiter an Ian Kershaws bekannter Hitler-Biografie.

In der Nazipropaganda nahmen die Erlebnisse des Meldegängers im Range eines Gefreiten breiten Raum ein, ebenso das bayerische 16. Reserve-Infanterie-Regiment, in dem der »Führer« seinen Dienst versehen hatte und das den Namen seines im Oktober 1914 gefallenen Kommandeurs List trug. Auf der Grundlage bislang unerschlossener Quellen kann der Verfasser ein völlig anderes, ein weitgehend reales Bild der Geschichte dieses Regiments zeichnen. Dargestellt werden dessen militärische Aktivitäten sowie der relativ bescheidene Platz, den Hitler darin einnahm.

Weber argumentiert, dass es doch erhebliche Unterschiede zwischen dem direkten Fronteinsatz der Truppe und der in geringerem Maße gefährlichen Tätigkeit als Meldegänger für den Regimentsstab gegeben habe. Er berichtet ausführlich über den Werdegang einzelner Offiziere und Soldaten, darunter auch Juden, über Auszeichnungspraktiken und die hohen Opferzahlen. Die Wiedergabe von Berichten, Briefen und Zeugenaussagen verdeutlicht Alltag im Krieg, mitunter sieht man sich regelrecht in das grauenhafte Kriegsgeschehen versetzt. Vieles liest sich wie eine Militärgeschichte »von unten«, spiegelt Stimmungen und Empfindungen der Soldaten wider, in begrenzter Weise auch deren politische und weltanschauliche Auffassungen.

Die Geschichte des List-Regiments erscheint allerdings nur in ein eng begrenztes Bezugsfeld eingeordnet. Hitler steht im Grunde über dem gesamtgesellschaftlichen Geschehen, das ihn und seine Entwicklung nicht beeinflusst zu haben scheint. Weber meint – weniger aus den Befunden, eher wohl aus gegenwärtigem Zeitgeist abgeleitet: Hitlers »Radikalisierung« habe nicht in seiner Wiener Zeit und erst recht nicht während des Ersten Weltkrieges stattgefunden. Auch die überwiegende Mehrheit seiner militärischen Einheit sei durch den Krieg »weder brutalisiert noch radikalisiert oder politisiert« worden. Hitler sei orientierungslos in den Krieg hineingegangen und ebenso aus ihm herausgekommen. Forsch schlussfolgert Werber, es dürfe daher dieser Krieg auch nicht als die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« verstanden werden, wie in der Historiografie inzwischen gängig.

Welche Bedeutung kam aber dann diesem Krieg zu? Ohne es direkt auszusprechen und ohne sich auf Ernst Noltes These vom Kausalnexus zwischen den Revolutionen am Ende des Weltkrieges und dem Erfolg des Faschismus zu beziehen, die in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts den sogenannnten »Historikerstreit« ausgelöst hatte, betrachtet Weber insbesondere die Münchner Räterepublik als Anlass und Ursache für Hitlers Einstieg in die Politik, als richtungweisendes Erlebnis für sein weiteres Leben sowie als Nährboden für die Ausbreitung eines radikalen Antisemitismus.

Der ausschließlich auf Hitler konzentrierte Blick lässt unberücksichtigt, dass es schon vor dem Sommer 1919 beträchtliche Kräfte gegeben hat, die rassistisch gefärbten Antisemitismus verbreiteten, die den »Marxismus« nicht nur bekämpfen, sondern ausrotten wollten und die zugleich alle humanistisch-demokratischen Auffassungen als »zerstörerisch« für die »Gemeinschaft« des deutschen Volkes denunzierten. Die Bestrebungen des Alldeutschen Verbandes oder der Deutschen Vaterlandspartei, aus der die Gründer der Deutschen Arbeiterpartei (Keimzelle der späteren Nazi-Partei) hervorgingen, tauchen nur am Rande auf. Man erfährt auch nichts darüber, wie Hitler »gemacht« worden ist (was jüngst so nachdrücklich von Ludolf Herbst belegt worden ist), auch nichts über jene konservative Politiker, die 1923 in Bayern gemeinsam mit der NSDAP den Putsch gegen die Weimarer Republik vorbereiteten.

Ohne auf Entwicklungsprozesse und Ursachen einzugehen wird behauptet, im Kaiserreich habe es zwar Antisemitismus gegeben, doch sei der nicht »radikal« und nur eine Randerscheinung gewesen: National hätten alle gedacht, aber nicht nationalistisch oder militaristisch. Manche Schlussfolgerung des Autors widerspricht dem gegenwärtigen Forschungsstand. Im Dunkeln bleibt u. a. die Rolle der Reichswehr und der Freikorps. Dass Weber seine These, nach 1933 habe Hitler sich nur auf eine »partielle Zustimmung« der Deutschen stützen können, aus Ergebnissen einer 1985 (!) erfolgten, nicht näher charakterisierten Befragung von 715 Deutschen ableitet, wirkt abstrus. Letzlich ist es ärgerlich, wenn in den Zeiten neuer Kriege die verheerenden Wirkungen des Ersten Weltkrieges auf solche Weise relativiert oder gar negiert werden wie hier.

Thomas Weber: Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit. Propyläen Verlag, Berlin 2011. 586 S., geb., 24,90 €.

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