»Wir haben das Tabu gebrochen«
Nach zehn Jahren Rot-Rot verbucht die Linkspartei die Bildungspolitik auf der Habenseite
ND: Die Einführung der Gemeinschaftsschule war in dieser Wahlperiode eines der Projekte der Linkspartei. Sind Sie stolz auf das Erreichte?
Zillich: 2006 wollte außer der Linkspartei keine der anderen das Schulsystem ändern. Die Schulstruktur war tabu. Jetzt haben wir zwanzig Gemeinschaftsschulen – also zehn Prozent der weiterführenden Schulen – und eine Schulreform, die die Gliederung deutlich abbaut. Damit haben wir mehr an gerechterem Zugang zur Bildung und deren Weiterentwicklung geschafft, als man uns zu Beginn zutraute. Wir haben das Tabu gebrochen.
Warum nahm sich die Linkspartei des Themas an?
Das deutsche Bildungssystem krankt an der Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom Geldbeutel der Eltern, den schlechten Leistungen und der geringen Zahl qualifizierter Abschlüsse. Uns war klar, dass dies nur durch die Überwindung des gegliederten Schulsystems zu ändern war. Deswegen brauchten wir eine Schule, die von Klasse eins bis zum Schulabschluss gemeinsames Lernen ermöglicht. Das ist die Gemeinschaftsschule. Mit der Pilotphase konnten sich Schulen in diese Richtung entwickeln und der zunächst skeptischen Öffentlichkeit zeigen, dass es geht. Heute sind Gemeinschaftsschulen anerkannte Schulen, gute Schulen.
Trauten Sie dies der SPD nicht zu, sie stellte mit Jürgen Zöllner immerhin den Bildungssenator?
Die SPD war und ist sehr zögerlich, das gegliederte Schulsystems abzuschaffen. Wir aber wollten, dass sich grundlegend etwas ändert und die Übel des Schulsystems an der Wurzel anpacken. So wurde dieses Projekt eine Bedingung für die Koalition. Viele Praktiker und auch Wissenschaftler hatten lange darauf gewartet und gedrängt, dass eine politische Kraft dieses Thema wirklich umsetzt.
Doch zu Beginn der ersten Pilotphase lancierte Zöllner das Konzept eines »zweigliedrigen Schulsystems«, bestehend aus Gymnasien und Sekundarschulen.
Einerseits griff Zöllner damit das drängende Problem der Hauptschulen auf, die nicht länger weiter bestehen durften, was allein durch die Pilotphase nur mittelfristig erreichbar gewesen wäre. Es war andererseits aber auch der Versuch der SPD, mit einer eigenen Position in die bildungspolitische Vorhand zu kommen. Wir befanden uns nun in dem Dilemma zu wissen, dass die Probleme des gegliederten Schulsystem nur mit einer Schule für alle zu lösen sind, diese aber politisch nicht durchsetzbar war. Also sorgten wir zunächst dafür, dass die Gemeinschaftsschule als Ziel festgelegt wurde.
Im Schuljahr 2011/2012 wurde Zöllners Schulstrukturreform umgesetzt. Welchen Einfluss konnte die Linkspartei nehmen?
Wir haben darauf bestanden, dass die integrierte Sekundarschule, die an die Stelle von Haupt-, Real und Gesamtschule getreten ist, in Bezug auf die zu vermittelnden Standards und die zu erreichenden Abschlüsse gleichwertig zum Gymnasium sein muss. Die Frage »Was soll mein Kind später mal werden, auf welche Schule muss es also gehen?« steht damit nicht mehr, weil alle weiterführenden Schulen alle Abschlüsse bis zum Abitur anbieten, an Sekundarschulen bis zum Schluss alle Wege offen stehen. Damit wird die Gliederung zwar nicht aufgehoben aber deutlich eingeschränkt. Uns war wichtig, dass Schulen, die auf individuelle Förderung setzen und aufs Sitzenbleiben verzichten, ein Selbstverständnis als eine Schule für alle Kinder entwickeln – auch als Schule für Kinder aller Leistungsvoraussetzungen, wo auch Spitzenleistungen gefördert werden. Natürlich haben wir auch darauf geachtet – das war ein extrem hartes Ringen –, dass sie vernünftig ausgestattet wird. Sie brauchen jetzt Zeit, Verlässlichkeit und Hilfe bei dieser Entwicklung.
Was besagt »integrierte Sekundarschule«?
Integrativ heißt, dass die Schule Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen im Lernprozess berücksichtigt und dass sie auch im Inneren – so ist zumindest unser Anspruch – das gegliederte Schulsystem nicht reproduziert. Die Frage, wie sie sich weiter entwickelt, ist offen. Die SPD hat darauf bestanden, dass auch eine äußere Fachleistungsdifferenzierung in den Schulen stattfinden darf, wenn diese wollen. Wir aber wollen, dass man die Schulen unterstützt, integrative Angebote des gemeinsamen Lernens und der individuellen Förderung zu entwickeln. Dafür ist es wichtig, ein pädagogisches Leitbild zu erstellen. Das ist der Auftrag, den wir dem Senat erteilt haben, und der bisher nicht ausreichend erfüllt wurde.
»Äußere Fachleistungsdifferenzierung« heißt?
Aufteilung der Kinder nach Leistungsstufen in bestimmten Fächern.
Also doch das gegliederte Schulsystem durch die Hintertür!
Letztendlich eine versteckte Gliedrigkeit innerhalb der Sekundarschule, ja.
Besteht nicht die Gefahr, dass diese Schulen zum Auffangbecken der im Gymnasium Gescheiterten werden?
Diese Gefahr haben wir gesehen. Deshalb haben wir ein Abschulungsverbot ab Klasse acht für die Gymnasien durchgesetzt. Außerdem wird die Sekundarschule an Attraktivität gewinnen. Als Ganztagsschule, die auf individuelle Förderung setzt, mit einer deutlich besseren Ausstattung als das Gymnasium, mit garantiertem Weg zum Abitur und mehr Zeit und Unterstützung für individuelle Entwicklung hat sie dafür gute Voraussetzungen. Die Akzeptanz wächst.
Was ist mit den Förderschulen, die dürfte es eigentlich in Zukunft nicht mehr geben, denn die Bundesrepublik hat die Behindertenkonvention der UN unterzeichnet.
Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf in Regelschulen zu integrieren, wird die große Herausforderung der nächsten Zeit. Der Senat hat ein Konzept vorgelegt, das einer deutlichen Überarbeitung bedarf.
Können Sie konkreter werden?
Zunächst sollen Kinder mit dem Förderschwerpunkt »Lernen, Verhalten und Sprache« in das Regelschulsystem integriert und diese Förderschulen aufgelöst werden. Doch dieses Senatskonzept steht unter der Überschrift der Kostenneutralität. Das halten wir für falsch. Zumindest während der Einführungsphase wird es Geld kosten. Wir fordern Klarheit darüber, welche zusätzlichen Ressourcen die Regelschulen tatsächlich erhalten. Ebenso wenig wurde die Zusammenarbeit von Schule, Jugendhilfe, Gesundheitsbehörden und Therapie berücksichtigt. Schulen, Eltern und Kinder müssen wissen, welches Hilfsangebot im Regelschulsystem vorgesehen ist.
Welche Rolle spielen die Gemeinschaftsschulen?
Sie zeigen, wie eine gute Schule von der ersten Klasse ohne Bruch nach der Grundschule bis zum Schulabschluss gehen kann. Und sie zeigen, wie die innere Veränderung in Richtung mehr individuellem Lernen, individueller Förderung aussieht. Da sind und bleiben die Gemeinschaftsschulen Vorreiter, auch für die notwendige innere Entwicklung der integrierten Sekundarschulen. Sie sind Ziel, Beispiel und Motor der Schulstrukturreform.
Die Pilotphase wurde wissenschaftlich begleitet. Gibt es schon erste Ergebnisse?
Die Schulen werden immer besser, ihre Arbeit auf die individuellen Lernprozesse der Kinder auszurichten, so dass mehr selbstständiges und projektbezogenes Lernen im Mittelpunkt steht, dass fächerübergreifendes Lernen und Gruppenarbeit stattfindet. Es zeigt sich deutlich ein Prozess der Abkehr vom klassischen Frontalunterricht als Regelsituation. Im Kollegium wie bei Eltern und Schülerinnen und Schülern gibt es ein sehr großes Engagement. Die Gemeinschaftsschulen genießen eine sehr hohe, steigende Akzeptanz.
Was geschieht nach der Pilotphase?
Das ist eine offene Frage. Wir treten dafür ein, dass die Gemeinschaftsschule als Regelschule im Schulgesetz aufgenommen werden sollte. Die jetzigen Gemeinschaftsschulen bekämen dadurch Bestandssicherheit und neue Gemeinschaftsschulen könnten einfacher eingerichtet werden.
Im jetzigen Wahlkampf sucht man bei der Linkspartei den Schwerpunkt »Gemeinschaftsschule« jedoch vergeblich.
Sie erscheint nicht auf dem Plakat, weil insgesamt im Schulsystem die Qualität verbessert werden muss. Trotzdem ist die Gemeinschaftsschule nach wie vor unser Ziel. Das sagen wir auch deutlich in unserem Wahlprogramm: Wir sind diejenige Partei, die man wählen muss, will man, dass die Gemeinschaftsschule nicht zu einer Episode in der Geschichte verkommt.
Jenseits von Rot-Rot
Sollte Berlin Rot-Grün werden, dann bekäme die Stadt laut Wahlprogrammatik einen »Schulfrieden« (SPD) unter »Beteiligung« (Grüne) der Menschen. Klingt gut, ist aber problematisch, denn dieser Prozess kann nur gelingen, wenn möglichst alle Betroffene befähigt und motiviert werden, sich einzuschalten. Andernfalls werden sich nur diejenigen beteiligen, die bereits »gut gebildet« sind. Erinnert sei an Hamburg, als die »Bildungselite« per Volksentscheid das längere gemeinsame Lernen ad Acta legte.
Die Grünen zeigen sich engagiert. Sie wollen die Schule als »Bildungszentrum für den ganzen Stadtteil«. Die Gemeinschaftsschule soll »nachhaltig in der Berliner Bildungslandschaft gesichert« werden, da diese eine »Vorbildfunktion« inne hat. Der »schrittweise Umbau« zur »inklusiven Schule« nach OECD-Vorgabe gelingt nur unter »Gewährleistung adäquat personellen und sächlichen Ausstattung«, heißt es im Wahlprogramm.
Dieses ambitionierte Programm muss im Fall des Falles den Härtetest der SPD bestehen. Diese plädiert in ihrem Programm »für einen Schulfrieden«, weil mit dem »zweigliedrigen Schulsystem aus Sekundarschulen und Gymnasien« eine »Schulstruktur« greift, in der alle Kinder »besser gefördert« werden und die »Chance auf ein Abitur« haben. Gemeinschaftsschulen stellen ein »zusätzliches Angebot für gemeinsamen Unterricht ab der ersten Klasse« dar. Kein Wort zur Inklusion, eine vage Versprechung für »mehr Qualität« aber »keine Strukturreform«. Das klingt nach Stillstand. L.T.
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